9.2.1. Alain Cabantous: Geschichte der Blasphemie. H. Böhlaus, Weimar, 1999

Cabantous ist ein renommierter französischer Geschichtswissenschaftler, der sein Metier, das Auffinden, Analysieren und Interpretieren von schriftlichen historischen Quellen, ohne Zweifel gut beherrscht und der es auf diese Weise schafft, die Menschen vergangener Zeiten selber zu Wort kommen zu lassen. Er bietet auf S. 11 eine (vorläufige) Definition für Blasphemie bzw. Gotteslästerung an: sie sei »ein mittels Sprache von Menschen bewußt herbeigeführter Bruch mit dem Göttlichen«. Ich vermisse hier eine genauere Kennzeichnung des »Göttlichen«. Ist es »Gott« als Eigenname eines all-einzigen höchsten Wesens, des jüdisch-christlich-islamischen Monotheos, oder ist es Gott als Oberbegriff für die verschiedensten Einzelgötter im Sinne des Polytheismus? Wenn wir aber zwischen »Gott« als Eigenname und Gott (besser: Götter) als Allgemeinbegriff unterscheiden würden, dann gäbe es auch den Unterschied zwischen
1) der Gotteslästerung: dem Lästern speziell jenes Gottes, der bei uns »Gott« heißt, und
2) der Götterlästerung: dem Lästern der Götter, also jeweils aller übrigen Götter oder eines bestimmten Gottes aus ihrem Kreis.
Cabantous befasst sich nur mit der Gotteslästerung im ersten Sinne, die es erst seit dem Aufkommen des Monotheismus gibt. Dieser Gott war aber zugleich ein notorischer Götterlästerer, der seinen Propheten immer neue Schimpfwörter für andere (»falsche«) Götter in den Mund legte: »Abgott«, »Götze«, »Idol« (dessen Verehrung eine »Idolatrie« war), »Dämon«, »Teufel«, »Satan« und »Beelzebub« etc. Ich möchte diese Unterscheidung zwischen Gotteslästerung und Götterlästerung nur zur Diskussion stellen, werde mich aber im Folgenden an den Sprachgebrauch von Cabantous halten.

Er beschränkt sein Forschungsthema auf die Blasphemie und ihre Bekämpfung im christlichen Abendland, vor allem in Frankreich, und auf die Zeit nach Beginn der Reformation bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, genauer: bis 1846. Seine Monographie umfasst 224 Seiten Text, der durchgehend sehr klar formuliert und gut übersetzt worden ist, ergänzt von 85 Seiten mit Anhang (Erlebnisberichte und offizielle Dokumente), Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Personenregister. Der historische Wandel der äußeren Bedingungen und ihrer Konsequenzen - von Zeiten, in denen zunächst noch die Kirche die zentrale Rolle spielte, dann mehr die Fürsten, die gotteslästerlichen Menschen selbst, die Richter, bis schließlich zur Zeit der Aufklärer - wird klar herausgearbeitet.

Für meine Darstellung der Forschungsergebnisse von Cabantous wähle ich eine eher systematische Argumentationskette, für die ich aber die Materialien nutze, die von Cabantous zusammengetragen wurden, sowie seine eher sparsamen und manchmal gallig-ironischen Interpretationen. Diese verarbeite und ergänze ich durch eigene Kommentare [in eckige Klammern gesetzt], damit ich das, was mich beim Lesen des Textes bewegte, nicht ganz unterdrücken muss. Ich beginne mit den von Cabantous aufgezählten göttlichen Ansprüchen, die offenbar Voraussetzung waren für die verschiedensten Arten, ihnen nicht zu Gottes Zufriedenheit zu genügen und schon dadurch Gott zu lästern. Die folgende Aufzählung und alle späteren sind aus z.T. vielfach wiederholten und über das ganze Buch - passim - verstreuten (und deshalb hier ohne Seitenzahlen versehenen) Formulierungen zusammengestellt.

  1. Der Herr Gott fordert: Ehrerbietung, Ehrfurcht, Respekt, Gehorsam, Verherrlichung, Anerkennung, Huldigung, Heiligung; der Glaubende soll dankbar und demütig sein. [Ich kommentiere: diese in den verschiedensten Texten wortreich vorgebrachten Ansprüche Gottes wirken auf mich wie die eines irdischen Fürsten oder absolutistischen Herrschers, oder wie eines himmlischen Königs der Könige].
  2. Gotteslästerlich war es schon, etwas anderes zu glauben als es die eigene Religion (die eigene Priesterschaft) vorgeschrieben hatte, so etwa - vom Christentum her gesehen - der Glaube der Juden und der Muslime. [Wohlgemerkt: gotteslästerlich war auch schon ein kleiner Glaubensunterschied, selbst wenn die »Gotteslästerer« an den gleichen Monotheos und sogar an den gleichen Jesus Christus glaubten].
  3. Gotteslästerlich ist auch jeder Versuch, sich gegen eine aufgezwungene religiöse Diktatur zu wehren, vor allem von Menschen, die in Not geraten waren und allen Anlass hatten, sich von Gott verlassen oder ungerecht behandelt zu fühlen. [Damit standen sie in der Nachfolge Jesu. Jesus selber hatte auf gotteslästerliche Weise geklagt: »Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!«. Das war immerhin ein Zweifel an der Güte seines himmlischen Vaters, denn Väter, auch wenn sie nicht allmächtig sind, verlassen ihre Söhne nicht, wenn diese in höchste Not geraten sind!].
  4. In der Sicht Gottes und seiner Priester ist die Blasphemie: ein Ausdruck von Ungehorsam und Respektlosigkeit, von Untreue und Verrat. [So spricht ein Herrscher über das strafwürdige Vergehen seines Untergebenen oder Vasallen!].
  5. Wie die Gotteslästerung ist auch die Weigerung eines Menschen, sonntags zum »Gottesdienst« zu gehen, ein Ungehorsam, den Gott nicht durchgehen lassen kann. [Die »Schändung der Sonntagsruhe« könnte ja solche Menschen dem Einfluss der Kirche entziehen, sie wäre damit vergleichbar einem »über den Zapfen hauen« oder gar einer »Fahnenflucht« der Soldaten, eine Art Landesverrat oder zumindest Majestätsbeleidigung].
  6. Eine Gotteslästerung ist besonders strafwürdig, wenn sie in der Öffentlichkeit geschieht, z.B. bei einer Fronleichnamsprozession den Hut aufzubehalten oder bei der Heiligen Kommunion herumzualbern. [Gott verlangt offenbar eine öffentliche Ehrung auch von Objekten, die an seiner Stelle gezeigt oder herumgetragen werden. Wer denkt da nicht an den Gessler-Hut bei Wilhelm Tell?].
  7. Der schriftkundige und gebildete Gotteslästerer dagegen lästert auf eine feinere, mehr intellektuelle Weise: er relativiert Glaubensinhalte, stellt sie in Frage, zweifelt an Gott, lehnt ihn ab, kehrt Glauben um, verneint ihn; er unterstellt Gott etwas, er verleumdet Gott, er verfälscht seine Worte, schreibt Gott etwas zu oder spricht ihm etwas ab, er rügt Gott, maßt sich etwas an, was nur Gott zukommt, er weigert sich, an ihn zu glauben und ihn zu verehren. [Dies alles war und ist nach dem katholischen Katechismus eine »Sünde wider den Heiligen Geist«, also gegen Gott selbst, eine Todsünde, in früheren Zeiten ein Kapitalverbrechen].
  8. Jede Blasphemie ist eine Herausforderung und Provokation Gottes, eine Frechheit und Kühnheit ihm gegenüber, ein direkter Angriff gegen ihn.[Das lässt den Gotteslästerer zum Feind seines Gottes werden, und er sollte wissen, wie Gott seit Noahs Zeiten mit seinen Feinden umging!].
  9. All diese Blasphemien, natürlich auch schon die üblichen Flüche, Witze und andere Respektlosigkeiten sind dazu angetan, die Ehre und Würde Gottes zu beschmutzen, zu trüben, zu untergraben, zu verletzen und zu schmähen. Gott fühlt sich dann leicht verhöhnt, gekränkt, geschmäht und beleidigt. [In extremer Ehrpusseligkeit reagiert Gott darauf sehr empfindlich, wie ein weltlicher Alleinherrscher, der keine Nichtachtung und schon gar keine Kritik vertragen kann und beides gleich als Majestätsbeleidigung auffasst].
  10. Die Blasphemie ist insgesamt: ein schlimmes Laster, eine Verfehlung, Verirrung, ein großes (schreckliches, furchtbares, abscheuliches) Verbrechen, eine Ruchlosigkeit, ein Frevel, eine schwere Sünde, die schwerste Sünde überhaupt; ein höllischer Wahnsinn, der Lästerer ist vom Satan dazu verleitet, ist eine Ausgeburt der Hölle. [Diese Einschätzungen begründen schon zur Genüge, dass jede Gotteslästerung dementsprechend unnachsichtig bestraft werden muss! Denn dieser allmächtige Gott läßt sich nicht einfach ans Bein pinkeln, er vernichtet den Täter, auch wenn dieser eigentlich nur ein dummer Hund war].
  11. Deshalb folgt auf die Gotteslästerung prompt Gottes Rache [dieses Wort »Rache« wird immer wieder, mit den verschiedensten Attributen, verwendet]: Gottes unvermeidliche, unausweichliche, unweigerliche, zwingend eintretende, sofortige, unmittelbare Rache; seine unnachsichtige, unerbittliche, furchtbare, schreckliche und grausame Rache; sein entschiedenes göttliches oder himmlisches Einschreiten und nachdrückliches Eingreifen, seine Forderung nach Sühne und harter Bestrafung etc. [Die von Cabantous zitierten kirchlichen und z.T. auch weltlichen Autoren finden für den heiligen Zorn und die Rachsucht Gottes immer neue Worte und Wendungen, verstehen dies alles jedoch als durchaus berechtigt und positiv, was wiederum ich selber kaum noch nachvollziehen kann!].
  12. Im einzelnen werden die folgenden göttlichen, nämlich von Gott selber vollzogenen Strafen ausführlich geschildert: es beginnt mit mehreren Fällen von göttlichem Massenmord oder Völkermord in Texten des Alten Testaments. Mal sind es 185.000 Feinde, mal nur 127.000 Feinde, die von Gott selber oder in seinem Auftrag von seinem Engel getötet werden, weil ihr Herrscher oder Anführer auf sündhafte Weise Gott (nämlich den Gott der Israeliten!) gelästert hatte. Oft wird die Sippe oder größere Gemeinschaft für die Blasphemie eines Einzelnen, der ihr angehört, haftbar gemacht und bestraft, bis schließlich zum Ertränken der ganzen Menschheit in der Sintflut mit Ausnahme des Auserwählten Noah und seiner Sippe und seiner Herde. Auch in späterer Zeit drohte die Bestrafung ganzer Völker: mit Armut, Elend, Missernten, Hungersnöten, Unfruchtbarkeit der Frauen, mit Verzweiflung und Unglück, mit Kriegen und Revolutionen, mit Naturkatastrophen wie Erdbeben (Sodom und Gomorrha), Hagel, Flut oder Trockenheit, mit Aussatz, Pest und Cholera. Dem beleidigten Gott fallen immer weitere Strafen ein [heute ist es der Atomkrieg], und diese Strafen treffen nicht nur den einzelnen Gotteslästerer, sondern in der Regel das ganze Kollektiv, die ganze Gemeinde oder das ganze Volk, schließlich im Har-Mageddon die ganze Menschheit, und damit treffen die Strafen für Gotteslästerung auch die Unschuldigen.
  13. Das führt dazu, dass dann die ganze Gemeinde, vom Priester dazu aufgestachelt, gegen den oder die gotteslästerlichen Außenseiter vorgeht: das führt zu einem üblen Denunziantentum und zu »Selbsthilfen« bis zur Lynchjustiz und zum Pogrom, nämlich um nicht selber für die Nichtverfolgung der Täter büßen zu müssen!
  14. Dazu gehört noch die Androhung von Höllenqualen im Jenseits mit dem Angebot, sie zu erlassen, wenn tätige Reue gezeigt wird, z.B. in der Bereitschaft zur Verfolgung anderer Gotteslästerer.
  15. Auch jeder sonst wie begründete plötzliche Tod des Sünders wurde als verdiente Strafe für seine Gotteslästerung interpretiert; vor allem ein plötzliches Verstummen eines Menschen ließ darauf schließen, dass er ein Gotteslästerer war [heute würde man vielleicht eine motorische Aphasie nach einem Schlaganfall diagnostizieren]. Mit beiden Deutungen wurde versucht, den Zeugen solcher dramatischer Ereignisse Angst zu machen.
  16. Schließlich gab es noch verschiedene von Menschen zu vollziehende Strafen, angefangen mit der erzwungenen Selbstbestrafung des Gotteslästerers, der »veranlasst« wurde, sich selber die Zunge zu zerbeißen oder mit der Zunge auf dem schmutzigen Boden ein Kreuzzeichen zu machen. Er wurde darüber hinaus öffentlich, in beschämendem Aufzug, zur Schau gestellt, am Holz oder Stein angekettet und »angeprangert«, er wurde ausgepeitscht und gesteinigt, zu Galeerenhaft und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit und Verbannung verurteilt. Ihm wurde seine Zunge durchbohrt, mit glühendem Eisen durchtrennt oder abgeschnitten, er wurde gehängt oder auf andere Weise getötet [heute müsste man sagen: ermordet, und zwar im Namen Gottes] und dann verbrannt, um ihm ein christliches Begräbnis mit der Chance zur ewigen Seligkeit zu entziehen.

Nun noch, über die bisherigen Kommentare hinausgehend, mein Resümee und meine Einschätzung dieser von Cabantous so ausführlich und eindrucksvoll berichteten Phänomene der Blasphemie und ihrer Verfolgung: in meiner Sicht waren die damals angedrohten und tatsächlich vollzogenen Strafen weitaus schlimmer als jede nur denkbare Gotteslästerung. In der vorgegebenen Absicht, die beleidigte Würde Gottes wiederherzustellen, missachteten sie aufs Gröbste die Würde des Menschen und verstießen ganz extrem gegen die Menschenrechte, wie sie heute formuliert sind, wie sie aber schon immer als Anspruch bestanden. Diese Einschätzung gilt insbesondere dann, wenn vergleichbare Strafpraktiken heute noch im Bereich islamistisch dominierter Staaten gefordert (so im Falle von Salman Rushdie) und an anderen Opfern solcher Willkür tatsächlich exekutiert werden. Nicht die Gotteslästerung ist der eigentliche Skandal, sondern die jahrhundertlange brutale Verfolgung und Vernichtung der sogenannten Gotteslästerer! »Sogenannt«, weil es oft einfach Andersgläubige waren, die ebenfalls ehrfürchtig an Gott glaubten, oder auch Menschen, die nach Cabantous allen Anlass hatten, in ihrer Not den Gott zu verfluchen, der ihnen offenbar so viel Leid gebracht hatte und augenscheinlich nichts tat, um sie noch während ihres Lebens davon zu befreien. Unter sogenannten Gotteslästerern gab es, worauf Cabantous in vielen Beispielen hinweist, auch junge Leute, die sich im Überschwang und Übermut und im Suff einfach nicht gut beherrschen konnten, etwa Soldaten, Seeleute, Kneipengänger, Glücksspieler und Raufbolde, oder auch solche Menschen, die sich nicht vor einer Autorität ducken wollten, die sie nicht mehr guten Gewissens anerkennen konnten, wie manche kritisch gewordenen Priester und frommen Sinnsucher, wie manche Freigeister und guten Demokraten. Ihnen allen sind wir schuldig, meine ich, uns auch heute wieder gegen jede Verfolgung von sogenannten Gotteslästerern zu wehren. Cabantous hat uns mit seiner Analyse der mit der Gotteslästerung befassten geschichtlichen Texte und Materialien gut für eine Diskussion der heute wesentlichen Phänomene und Probleme vorbereitet.