3.2.2. Von Ptolemäus zu Kopernikus: Beschreibungen vs. Erklärungen

Ein weiterer bedeutender Gravitationstheoretiker war der griechische Astronom, Mathematiker und Naturforscher Claudius Ptolemäus (ca.100 - 160 n.Chr.). Er lebte in der damals römischen Provinz Ägypten (daher sein romanisierter Name) und forschte in der am westlichen Nildelta gelegenen Hafenstadt und damaligen Weltmetropole Alexandria, die mit ihren berühmten Bibliotheken ein Zentrum der antiken Wissenschaften war. Zwar begann die Zerstörung der alexandrinischen Bibliotheken schon 47 v.Chr., aber die Forschungsstätte Museion wurde erst 269 n.Chr. und die kleine Bibliothek erst 390 n.Chr. vernichtet, so dass beide mit ihren Schriften und Gelehrten dem Ptolemäus noch zur Verfügung standen. In seinen profunden Kenntnissen der Geometrie und Mathematik war er auf der Höhe seiner Zeit, er hatte Schriften zur Erkenntnistheorie und ein Werk über die Schwere (!) der Körper verfasst. Ptolemäus war der Autor des ersten systematischen Handbuchs der mathematischen Astronomie, ein Werk, das in seinem Inhalt und Aufbau über Jahrhunderte maßgeblich war, noch über N. Kopernikus hinaus. Er erweiterte einen ihm überlieferten Fixsternkatalog, der dann bis Tycho Brahe fast unverändert verwendet wurde. Mit seinen Theorien über die exzentrischen Bewegungen der Sonne und die Epizykel des Mondes war er in der Lage, Mond- und Sonnenfinsternisse zu berechnen. Auch wenn wir heute darüber lächeln könnten, dass Ptolemäus die Erde noch als Zentrum der Sternenwelt ansah, von Sonne, Mond, Planeten und Fixsternen in z.T. komplizierten, aber berechenbaren Bewegungen umkreist, so waren seine Theorien doch bemerkenswert gut in der Lage, die Bewegungen der Gestirne geometrisch-mathematisch zu beschreiben.

Dagegen war das heliozentrische System des Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543), eines umfassend gebildeten Arztes und Juristen, der sich zunächst eher nebenberuflich mit der Astronomie befasst hatte, vor allem in seiner Anschaulichkeit revolutionär: Die Sonne als Zentralgestirn wurde von den Planeten, darunter auch die Erde, auf Kreisbahnen umrundet (erst Kepler hat die Bahnen als ellipsenförmig erkannt). Die Auffassung des Kopernikus war also noch nicht einmal mathematisch ganz korrekt, war als Bahnbeschreibung nicht viel besser als die des Ptolemäus, aber sie bot Erklärungsansätze, die später in der Kantschen Theorie der Planetenentstehung und durch weitere Spezifizierungen ausgebaut werden konnten. Vor allem: das kopernikanische System war leichter darzustellen und mit weniger Zusatzannahmen einfacher zu berechnen, und es hatte eine hohe "Selbsterfindungs-Eignung": Wer es einmal verstanden hatte, brauchte es nicht wieder nachzulesen und auswendig zu lernen, sondern hatte es als klare räumliche Vorstellung vor Augen. Man konnte bei höheren wissenschaftlichen Ansprüchen ohne theoretische Umwege sehr viel Einzelnes aus wenigen Prämissen ableiten, und die Verallgemeinerung wie etwa durch Newtons Gravitationstheorie war leichter möglich. Was Ptolemäus mit seiner geozentrischen Himmelsmechanik noch so gut geometrisch-mathematisch beschreiben konnte, das konnte Kopernikus mit seinem heliozentrischen Ansatz viel einfacher erklären.

Erklärungen haben gegenüber Beschreibungen den Vorzug, mit weniger Informationen (hier als Worte, Zeichen, Zahlen und Begriffe verstanden) auszukommen. Denn dasjenige, das vorher wie von Ptolemäus mit Texten und geometrischen Zeichnungen hoher Komplexität beschrieben worden war (ich ziehe in diesem Kontext das Wort "Beschreibung" vor), das kann durch eine neue Theorie, z.B. die Kopernikanische, sparsamer so erklärt werden, dass in der Erklärung eine Vielzahl der beschreibenden Informationen nicht mehr vorkommen, ja sogar überflüssig geworden sind. Dann braucht man zur Erklärung der Gravitation nicht mehr heranzuziehen, was man zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Positionen am Himmelsgewölbe zu sehen bekommt. Ein anderer Unterschied liegt darin, dass eine Beschreibung nur wiedergeben kann, was man beobachtet hat. Sie sollte sich vom Beobachtbaren jedenfalls nicht zu weit entfernen. Die Erklärung ermöglicht dagegen, etwas (z.B. eine mögliche Konsequenz der Erklärung) erst hypothetisch anzunehmen, und dann erst zu suchen und auch zu finden (z.B. auf der theoretisch abgeleiteten Position am Nachthimmel einen weiteren bisher unbekannten Planeten), jedenfalls etwas, was man vorher weder gesehen noch beschrieben und schon gar nicht vorauserwartet hatte. So werden neue, bisher nicht realisierte Beobachtungen möglich. Andererseits können gezielt neue Beobachtungen herangezogen werden, um den Geltungsbereich einer Theorie abzugrenzen oder zu erweitern. Den besonderen Rang einer Entdeckung kann nach K. Popper eine Erklärung nur dann haben, wenn etwas schon Bekanntes durch etwas bisher Unbekanntes noch besser erklärt werden kann.