2.5.1. Ein krass übertreibender Dualismus:
Das nichtige Individuum angesichts des allendlichen Monotheos

In den folgenden Überlegungen möchte ich versuchen, den vom Christentum so betonten engen und ausschließlichen Bezug zwischen dem allendlichen Gott und dem „nichtigen“ Menschen, sowie die so einseitige Beziehung zwischen dem einen Gott und der von ihm geschaffenen allendlichen Welt, aufzubrechen und durch andere Wesentlichkeiten zu ergänzen. Denn ein einziges Individuum, sei es Gott oder sei es die letzte, tiefste Subjektivität des Menschen, wäre in seiner Einzigkeit zugleich unvergleichlich und damit unterschiedslos, zur bloßen leeren "Dassheit" reduziert, ebenso wie sich im "All" oder "Universum" jede Besonderheit in allendlichen Mengen verliert. Mein eigener Ansatz versteht sich somit als Remedium oder Antidot gegen die größenwahnsinnig-narzisstische Verabsolutierung des Einen und auch gegen die übermäßig polarisierende Differenz zwischen dem göttlichen Einen (oder dem menschlichen Fast-Nichts!) und dem Unendlichen.

Diese Gegenposition sollte sich aber nicht in einer bloßen Negation oder Umkehrung erschöpfen. Wir müssen abkommen von dem verkrampften Wechsel zwischen Behauptung und Verwerfung des Behaupteten, von dem bloßen Umkippen monistischer Theorien in ihr scheinbares Gegenteil: in den Wahn von Friedrich Nietzsche, selber Erlöser werden zu müssen, nachdem er Gott für tot erklärt hatte, oder in den Irrtum von Karl Marx, die Hegelsche Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen zu können in der Erwartung, es würde dann etwas ganz Anderes daraus werden. Ein umgekehrter Hegel ist aber immer noch ein Hegel (auch wenn wir selber einen Kopfstand machen müssen, um ihn wiederzuerkennen), und Hegel war nun einmal ein philosophischer Trinitarier: "These, Antithese, Synthese" - ein Wechselschritt im immer noch gottbestimmten Tanz des Seins! Es erscheint mir auch als völlig unzureichend, sich wie im A-theismus auf die bloße Negation des Monotheos zu beschränken, denn das A- als Alpha privativum bietet keinen Ersatz für das Negierte, sondern setzt es weiterhin als ein zu verneinendes Etwas voraus.

Meine eigene Theorie soll kein solches Gegenteil von etwas werden, sondern - bei aller Kritik am Monotheismus und bei aller noch spürbaren eigenen Faszination durch Gott und Jesus - dennoch ein nur in ein paar wenigen, wenn auch entscheidenden Hinsichten merklich Anderes, aber immer noch als konstruktive Fortsetzung alter religiöser und philosophischer Traditionen erkennbar. Worin besteht diese Änderung? Ich frage nach dem, was sich zwischen dem menschlichen (bzw. göttlichen!) Individuum und dem All, zwischen dem Fast-Nichts eines Einzelnen und dem allendlich Vielen der Welt abspielt und vorfinden läßt. Es geht mir darum, die sich zwischen diesen beiden Polen erstreckende Dimension zu relativieren durch die Eröffnung von weiteren, davon relativ unabhängigen Dimensionen. Dazwischen begegne ich einer überschaubaren Pluralität weniger Entitäten, die für mich erkennbar und meinem Handeln zugänglich sind. Solche Etwasse lassen sich in einigen Hinsichten von anderen Etwassen unterscheiden: sie haben je eigentümliche und für sie selber wesentliche Merkmale oder Charakteristika und können je für sich in ihrer Besonderheit identifiziert und voneinander unterschieden, aber auch aufeinander bezogen werden. Es kann sich vernünftigerweise nur um einige wenige Arten von Wesentlichkeiten handeln, nicht um alle möglichen. Denn wenn es zu viele wären, müsste ich, um eine Übersicht über sie zu gewinnen und zu behalten, sie doch wieder in Gruppen und übergeordneten Einheiten zusammenfassen. Stattdessen lenke ich den Blick gleich auf einige wenige Wesentlichkeiten oder Seinsbereiche, die voneinander relativ unabhängig sind und die in einem überschaubaren Ensemble und schließlich in einer gegliederten Ganzheit zusammenfinden können. Dann könnte auch eine vorübergehend verworfene Sichtweise wieder ihren - bescheideneren! - Platz im Ganzen finden. Vorherige Ansichten müssen nicht in toto verworfen werden. Es reicht vielleicht aus, dass wir sie nicht mehr so tödlich wichtig nehmen, sondern ihnen mit einem freundlichen Augenzwinkern unsere Reverenz erweisen. Warum nicht auch an Gott glauben? Solange man damit nichts Übles anrichtet - und solange Er nichts Übles anrichtet! Aber da seien wir Menschen vor!

An die Stelle einer leeren Null oder einsamen Eins gegenüber einem unfassbaren Unendlich, an die Stelle eines solipsistischen "Ichs" oder Gottes gegenüber dem All setze ich also das kommunikative "Wir" und "Ihr". "Wir" und "Ihr" will ich aber nicht als Gegensätze verstanden wissen, schon gar nicht mit einer Abwertung des "Ihr" der Fremden gegenüber dem "Wir" der Unsrigen. Denn "Ihr" kann auch heißen: "Ihr, meine Freunde, meine Gäste, meine Familie, meine Genossen und Kollegen", und die eben aufgezählten Gruppen sind allemal solche, die mich in sich einschließen. Zum "Wir" gehört also auch das "Ihr", alle zusammen, und auch ich als einer von uns, oder, wenn es euch recht ist, ich als einer von euch! Denn die Solidarität der miteinander Vertrauten kann auch die bisher Fremden mit einschließen, bis zur gemeinsamen Verantwortung für ein Ganzes - wenn auch sicher nicht für das All: das soll sich gefälligst um sich selber kümmern! Gesucht wird also so etwas wie eine überschaubare "Familie" von mehr oder weniger miteinander vertrauten Wesentlichkeiten. Denn auch ein zunächst noch recht Fremdes kann mit der Zeit immer vertrauter werden. Das wird erleichtert durch die Überschaubarkeit der unterscheidbaren Seinsarten, auch durch die Einschätzbarkeit der Verschiedenheiten, unter denen ich je nach Situation wählen und mich entscheiden kann. Unterschiede, kleinere und auch größere, werden hier ganz positiv gesehen; sie sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht und begrüßt: "Vivent les différences et la pluralité!"

Eine solche pluralistische Sicht der Dinge soll in den folgenden Kapiteln zunächst exemplarisch an Aussagen des vorchristlichen griechischen Philosophen Epikur und des in gewisser Weise schon nach nachchristlichen französischen Philosophen Montaigne verdeutlicht werden.