2.5.3.9. Montaigne war kein Christ

M. war tatsächlich in seinem Denken alles andere als ein Christ. Aber er macht es nicht öffentlich, er verschweigt es. Zwar argumentiert er an einigen Stellen ganz unumwunden kritisch gegenüber dem Christentum, aber das ist eine Ausnahme. Verbreiteter ist seine Tendenz, christliche Glaubensinhalte einfach nicht zu erwähnen. Ohne den jüdisch-christlichen Glauben explizit zu verwerfen (das wäre für ihn als Zeitgenosse Dolets und Brunos lebensgefährlich gewesen!), schwieg er ihn also einfach tot, oder besser: er war ihm nicht der Rede und des Denkens und Schreibens wert. Gott und Jesus, die Bibel mit Altem und Neuem Testament, die Kirchenväter und die Scholastik kamen ihm einfach nicht in den Sinn, wenn er sich mit den für ihn so wichtigen Themen wie dem eigenen Tod, dem eigenen Erleben, der Stellung des Menschen in der Natur und dem Umgang mit anderen Menschen befasste. So war sein Unglaube nicht Ausdruck einer kämpferischen, etwa aus Enttäuschung herrührenden Negation des Christentums oder einer seiner Konfessionen, sondern eher ein Ignorieren aus Desinteresse. Hugo Friedrich macht es deutlich: "Sein (M.s) Vermeiden antichristlicher Polemik ist nicht bloß Furcht vor der Zensur. Er bildet seine eigene Gesinnung einfach aus, unter Führung der Antike, als gäbe es überhaupt jene ganz anderen (H. S.: christlichen!) Betrachtungen gar nicht" (S. 272). Wenn auch nicht ausdrücklich, so doch sehr entschieden kritisiert M. das Christentum also durch Nicht-Erwähnung seiner Positionen, und er tut dies vom Anfang der Essais bis zu ihren Ende. Die Zahl biblischer Zitate in den Essais ist sehr gering. Zusammen mit den für die Öffentlichkeit bestimmten biblischen Sprüchen an den Deckenbalken seiner Bibliothek kommt man, so H. Friedrich (S. 80), nicht einmal auf drei Dutzend, eine verschwindende Anzahl verglichen mit den rund 500 Bezugnahmen auf Plutarch. Fragen wir weiter, mit welchen biblischen Quellen M. in diesen wenigen Zitaten befasst war? Von Christus ist so gut wie gar nicht die Rede (H. Friedrich, S. 107), auffallend ist auch das fast völlige Fehlen der Evangelien (H. Friedrich, S. 81). M. interessierte sich offenbar kaum für Jesus und dessen "frohe Botschaft", und ganz gering ist auch M.s Lektüre in christlich-theologischen Autoren. Dies ist besonders auffällig, weil M. sich in den Essais mit einigen Themen befasst hat, die zentrale Glaubenswahrheiten des Christentums anrühren: Sterben, Tod und Wiederauferstehung. Doch "weder in den Zitaten noch in der Ideenführung gedenken die Essais auch nur im geringsten derjenigen biblischen Texte, auf denen der christliche Todesbegriff ruht: ... diese biblischen Texte, und mit ihnen die ganze spätere Theologie, (bestimmen) den Tod als eine Abnormität, die durch Willensschuld des ersten Menschen (H. S.: als Erbsünde) in das ursprünglich todfreie Menschentum gebracht wurde ... So gilt christlich der Tod seinem geschichtlichen Ursprung nach als Schuld, seinem Vollzug nach als die Pforte zur Entscheidung, ob der Mensch (ewig) verworfen oder (ewig) gerettet sein wird" (H. Friedrich, S. 271). Eben von dieser Unvernichtbarkeit durch den Tod muss eine tiefe Ängstigung ausgehen. Sie "zwingt den Menschen, sich für oder gegen seine einzige Chance zu entscheiden: nämlich im Irdischen die Schuld abzutragen, die an diesem erbsündig belasteten Leben haftet" (S. 271). So wird für den Christen die unausweichliche Unsterblichkeit, die Unmöglichkeit des Nichtmehrseins, zur "Ursache höchster Angst wie höchster Hoffnung ". Für den Christen, aber nicht für Montaigne! Gerade in seinen Todesreflexionen kommt eindeutig heraus, was M. nicht ist: er ist kein Christ, und noch nicht einmal ein Stoiker (H. Friedrich, S.270). In seinem berühmten Essay "Philosophieren lernen heißt sterben lernen" (1. Buch, Kap. 20) neigt er dazu, "die Frage nach dem Tod als die Frage nach dem Verhalten zum Tod zu bestimmen, und zwar unter Ausschluss christlicher Motive. Es gibt in diesem ganzen Essay kein einziges christliches Zitat" (H. Friedrich, S. 249). Bemerkenswert ist sein Nichtbeachten des christlichen Heilsangebotes gerade dort, wo es M. offensichtlich um persönlich Wichtigstes geht, um den eigenen Tod! Er distanziert sich von den "Ablenkungen", die sich der vor dem Tod stehende Christ durch den Gedanken an die Unsterblichkeit oder durch Gebete schafft: "In höchster Kühnheit wagt M. den Satz, dass Sterbende, die mit Gebet und Jenseits beschäftigt sind, wohl für ihre Frömmigkeit belobt werden dürfen, aber nicht für ihren Todesmut (S. 263)... Für ein religiöses Gemüt sind solche Worte empörend. Sie ... (erklären) frommes Verhalten ... als Ausflucht einer Schwäche" (H. Friedrich, S. 264).

Nicht nur die im engeren Sinne christliche Heilsbotschaft, sondern auch deren jüdischer Mutterboden spielt in M.s Denken kaum eine Rolle, außer Anklängen an Stellen etwa aus dem "Prediger Salomo", dem Buch Kohelet, des Ekklesiasten. M. nutzt hier die Bibel wie einen Zitatenschatz neben anderen. Die Zitate wurden von ihm aber so ausgewählt, dass sie sich in ihrer hellenistischen Grundtendenz gut in die agnostizistisch-eudämonistischen Gedankengänge M.s eingliedern. Es geht aber weit über das Zulässige hinaus, meint H. Friedrich in seiner Anmerkung 47, die Themen der Essais als Entfaltung von Ekklesiastes-Versen darzustellen, da die Verwandtschaft zwischen beiden meist auf dem gemeinsamen Dritten, der hellenistischen Lebensphilosophie, beruhe.

Wie fern M. dem Christentum stand, ist sogar aus seinem Umgang mit den klassisch-römischen und -griechischen Autoren abzuleiten: M. hat nämlich die römische (und über deren Vermittlung die altgriechische) Philosophie nicht einfach als Ganze unkritisch rezipiert und ausgebreitet, sondern er hat - klar erkennbar - vorwiegend bestimmte Autoren und Themen berücksichtigt und als zitierwürdig ausgewählt. Er zitierte eher nicht den magisch-seelenwanderungsgläubigen Pythagoras, eher nicht den Platon, dem es um die höchsten Werte und um den utopisch-optimalen Staat ging, nicht den Aristoteles mit seinem auf ein "allendliches" Ganzes bezogenen Systemdenken. Stattdessen berief er sich eher auf die vorsokratischen Naturphilosophen wie Xenophanes, Demokrit und auf Heraklit, den Denker der "unendbaren" Veränderung, auf den Skeptiker Sokrates, und vor allem auf Epikur mit seinem Lob des Lebens und der Lust. Seine Auswahl griechisch-römischer Autoren und deren Themen war offensichtlich an einem Ausschlusskriterium orientiert: M. trug bevorzugt das zusammen, was nicht dem jüdisch-christlich-islamischen Glauben an den all-einzigen und allmächtig-allwissenden Monotheos entsprach, und was nicht an den mächtigen Gottesstaat und seine alleinseligmachende Kirche erinnerte, nicht an das manichäische Verwerfen des sündigen Leibes, und er zitierte eher keine klassischen Autoren, deren Denken von der Scholastik als mit dem Christentum vereinbar akzeptiert worden war, also nicht die scholastisch vereinnahmten Philosophen wie Platon und Aristoteles. Es muss wohl offen bleiben, ob ihm diese Literaturauswahl durch die von La Boetie geerbte Bibliothek überkommen war, oder ob M. selber dafür verantwortlich war. Wahrscheinlich beides! Zumindest trug M. die Verantwortung dafür, diese Autoren in seinen Essais so offen sprechen zu lassen, mit dem Risiko, dass deren Äußerungen als seine eigenen Gedanken erkannt und hochnotpeinlich bestraft worden wären.

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn wir an dieser Stelle einmal der hier gar nicht so abseitigen Frage nachgehen, was den Essais zu entnehmen ist über M. als Soldat. Am deutlichsten erkennbar ist seine Hochachtung vor den großen Feldherren, seine Sympathie für tapfere Soldaten. So begeistert wie M. könnte allerdings auch ein Zivilist, z.B. ein Journalist, über Kriegshelden schreiben! Aber M. schreibt wie einer, der die Kämpfe immerhin aus allernächster Nähe miterlebt hatte, der auch das Unsinnige und Grausame des Krieges erfahren hatte. So malt M. zwar an einem Bild des ritterlichen Helden, der mutig angreift und tapfer durchhält, aber doch eines Mannes, der gegenüber dem Unterlegenen nicht gemein wird. Ganz entschieden spricht er sich gegen kriegerische und insbesondere religiös motivierte Grausamkeit aus. Es sollte auch hervorgehoben werden, dass M. seine Essais mit einem Kapitel beginnt, dessen Titel "Durch verschiedene Mittel erreicht man das gleiche Ziel" seltsam abstrakt klingt, in dem es aber tatsächlich um Mannesmut, Kühnheit und Tapferkeit gegenüber Herrschern und Siegern geht. Ich frage nun: Könnte es sein, dass M. in diesem Kapitel und in späteren Texten kriegerischen Inhalts versucht hatte, seine im Unterschied zu ihm selber noch kriegerischen und kämpferischen Standesgenossen anzusprechen, um sie für einen Mut und eine Tapferkeit ganz anderer Art zu erwärmen: für den Mut, den eigenen Verstand einzusetzen, aus eigenen Erfahrungen mit ungetrübter Urteilskraft realistische Schlüsse zu ziehen, sich ein ehrliches Bild des eigenen Selbst, ein wahres Bild der erfahrbaren Welt und ein eher kritisches Bild des christlichen Glaubens zu machen? Angesichts der Bedrohung für Leib und Leben durch die katholische Inquisition und durch kalvinistische Fanatismen erforderte auch dies ein hohes Maß an Tapferkeit, und für M. selber dazu auch noch eine überaus große Ausdauer und Beständigkeit, über 20 Jahre hinweg, um ein solches Buch zu einem überzeugenden Abschluss zu bringen. Lassen wir es daher ruhig offen, ob M. wirklich im üblichen Sinne ein Kämpfer und Soldat war. Er war jedenfalls in einem überaus hohen Maße mutig und tapfer, und er hat in seinem Leben immer wieder das bewiesen, was wir noch heute mit dem französischen Wort "Zivilcourage" bezeichnen, nämlich den Mut, Gerechtigkeit und Anstand auch gegenüber Herrschern und Unterdrückern zu verteidigen. Seine Essais sind jedenfalls eine vorzügliche Einübung in Mannesmut gegenüber jeder Art von Inquisition, Denkzwang und Meinungsterror.

Hugo Friedrich ist der Frage nachgegangen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass man M. sogar zu den katholischen Apologeten rechnete (S. 105), und hat sich einige Gedanken über M.s "Konservativismus" gemacht (S. 105 - 110): Er sieht M. als kirchentreu an (S. 108) und das stimmt insoweit, als M. seine kirchlichen Pflichten erfüllte, aber dies eher nur formal und mit einer mehr nach außen hin demonstrierten Haltung der Rechtgläubigkeit, in einem Akt praktischen Verhaltens (S. 108). M. nimmt die Kirche hin "als etwas von alters her Gegebenes und Ordnung Stiftendes; wer in ihrem Wirkungskreis geboren ist, tut gut, sich ihr zu beugen" (H. Friedrich, S. 108). Er räumt der Autorität die formale Rolle der Grenzsetzung ein, nicht ihre inhaltliche Überlegenheit (S. 109). Sein Praktizieren katholischer Kirchentreue ist nicht mit einer Zustimmung zum objektiven Wahrheitsgehalt der katholischen Lehre verbunden, noch nicht einmal mit einer im Glauben fundierten konservativen Gesinnung. Sein Agieren als praktizierender Katholik hindert ihn nicht daran, unchristlich zu denken (H. Friedrich, Anm. 245). Und in den wesentlichen Punkten seiner Religionskritik blieb er standfest: H. Friedrich weist darauf hin, dass M. "trotz seiner (schriftlich bekundeten) Unterwerfung unter die römische Zensur die von ihr gerügten Stellen nicht strich noch auch änderte" (S. 110). Auch in diesem Problembereich lohnt es sich, M. selbst zu Wort kommen zu lassen. Zunächst äußert er sich mehr allgemein über die bloß äußerliche Frömmigkeit vieler Leute (zu denen er, wie wir inzwischen wissen, selber gehörte): "... genauer gesagt: Wir lesen unsere Gebete ab und sagen sie her. Letztlich ist es nichts als Getue ..." (M. de M., S.160). Und er erinnert sich an jenen Mann, der ihm gegenüber eingestand, "dass er sich sein Leben lang zu einer Religion bekannt und sie praktiziert hat, die er für verdammenswert hielt und die dem Glauben widersprach, den er in seinem Herzen trug ..." (S. 160). Könnte dieser Mann Michel de Montaigne geheißen haben? Etwas persönlicher und direkter äußert er sich später dazu: "Ich finde keine Eigenschaft so bequem nachzuahmen wie die Frömmigkeit ... ihren Schein zur Schau zu stellen (ist) einfach und leicht" (S. 403). Aber die ganze Doppelbödigkeit seiner Stellung zum Katholizismus klingt in der folgenden Bemerkung an: "Die einen machen die Welt glauben, sie glaubten, was sie nicht glauben; die andern, größer an Zahl, machen es sich selber glauben, da sie nicht bis zu der Erkenntnis vorzudringen wissen, was das heißt: glauben" (S.219), und ich (H. S.) ergänze: nämlich was ihnen da zu glauben zugemutet wurde!

Wie stand M. nun zu den christlichen Konfessionen, ihren theologischen Differenzen und ihren Glaubenskämpfen? Zunächst muss man wie gesagt davon ausgehen, dass M. trotz einiger gegenteiliger eigener Beteuerungen kein Christ war, und damit konnte er auch weder katholisch-christlich noch protestantisch-christlich sein. Aber so skeptisch er gegenüber dem Christentum insgesamt war, so war er den aufgeklärteren Varianten des Christentums gegenüber doch freundlich gesinnt, wobei unsicher ist, ob er in der Wahl zwischen dem aufgeklärten Katholizismus der Renaissance-Päpste und dem aufgeklärten Protestantismus einiger seiner College- und Universitäts-Dozenten sich für eine der beiden Richtungen entschieden hätte. Eigentlich hätte doch, so möchte man meinen, der aufgeklärte Kalvinismus für ihn das gerade noch akzeptable kleinere Übel sein müssen! Musste er nicht als Aufklärer für die Partei sein, die sich dem kirchlich-scholastisch-politischen Machtanspruch und -missbrauch entzog und sogar entgegenstellte? Immerhin waren die Protestanten gegen die päpstliche Autokratie, gegen den unverschämten Ablasshandel, gegen den leibfeindlichen Zölibat, gegen die Bevormundung der Laien etc.! Und immerhin verband M. eine lebenslang verlässliche geistige Freundschaft mit Heinrich von Navarra, verbunden mit einer Solidarität mit dessen protestantischen Anhängern, und wenn er immer wieder zwischen Heinrich und dem Pariser Hof vermittelt hatte, dann eher zugunsten von Heinrich als etwa gegen ihn. War nun M. "heimlich" ein Protestant? Fragen wir ihn dazu am besten nach seinen Selbstzeugnissen in den "Essais", in denen er sich ja in vielen Hinsichten um eine ehrliche Selbstschilderung bis zur offensten Selbstentblößung bemüht hat.

Im Streit zwischen den christlichen Konfessionen nimmt M. keineswegs einfach Partei für die katholische Kirche. Er sieht sehr klar ihre Mängel und Schwächen und findet sogar starke Worte zu ihrer Kritik: "Selbst die Partei, die das größere Recht auf ihrer Seite hat (H. S.: das kann im vorliegenden Zusammenhang nur die katholische sein), ist Glied eines von Würmern wimmelnden Körpers. Bei einem solchen nennt man das am wenigsten angefressne Glied freilich gesund" (S. 501), und an einer späteren Stelle argumentiert er mit einer ähnlichen Relativierung: "Auch war die ursprüngliche Gesundheit unseres Gemeinwesens so beschaffen, dass sich das Bedauern, das wir über ihren Verlust empfinden mussten, in Grenzen hält: Gesundheit war es schon, aber nur im Vergleich zur darauffolgenden Krankheit" (S. 528). Bitter klagt er über den Bürgerkrieg (der ursprünglich im wesentlichen von der katholischen Seite gegen die Protestanten geführt wurde): "Welch Monstrum von Krieg ... Er will den Aufruhr (H. S.: den protestantischen!) aus der Welt schaffen und ist selber voll davon; er will den Ungehorsam züchtigen und dient ihm als Beispiel. Zur Verteidigung unserer Gesetze unternommen, leistet er der Rebellion gegen die eigenen Vorschub" (S. 525). Die konfessionellen Differenzen kann M. kaum nachvollziehen, weil er eigentlich nur den Menschen sieht, welcher Religion dieser auch immer angehören mag: "... während unserer Bürgerkriege ... begegneten wir eines Tages einem sympathisch aussehenden Edelmann. Er gehörte der Gegenpartei an, was ich jedoch nicht wissen konnte ... Das Schlimmste an diesen Kriegen ist, dass die Karten völlig durcheinander gemischt sind, da der Feind sich weder in der Sprache noch im Auftreten durch irgendwelche äußere Kennzeichen von uns unterscheidet, ist er doch nach denselben (H. S.: französischen!) Gesetzen, in derselben (H. S.: christlichen) Gesittung und unter dem selben Himmelsstrich (H. S.: in Frankreich) aufgewachsen wie wir; ..." (S. 182). Wenn es dann noch zum Wechsel eines Adligen von einer Partei zur anderen kam, war die Konfusion total: "In Bürgerkriegen kommt es oft zu solch schändlichen Beispielen, die darauf hinauslaufen, dass wir den gemeinen Mann für die Treue strafen, mit der er uns gefolgt ist, als wir der anderen Partei folgten ... " (S. 397).

M. äußert aber auch Kritik an der Reformation, deren Anspruch von ihm etwas ironisch kommentiert wird. Auf das Treiben der reformatorischen Neuerer bezogen schreibt er: "Doch das alles geschieht, um unser Gewissen und unseren Glauben zu läutern - wie ehrenwert das doch klingt!", um gleich darauf kritisch fortzufahren: " ... Ist es etwa nicht miserabel hausgehalten, wenn man so viele bekannte und unumstrittene Laster heraufbeschwört (H. S.: er meint damit Aufruhr und Zersetzung der Gesellschaftsordnung, Bürgerkriege und politische Umwälzungen), um bereits umstrittene und zur Diskussion gestellte Irrtümer (H. S.: auf katholischer Seite, die aber den Katholiken nicht verborgen geblieben sind) zu bekämpfen?" (S. 66). Es geht ihm aber nicht nur um die schädlichen Folgen der Glaubenskämpfe, sondern auch um die Fundierung der Reformation in der "Heiligen Schrift": "Auch jene, die glauben, sie könnten unseren Streitigkeiten Einhalt gebieten, indem sie uns an den Wortlaut der Bibel verweisen, machen sich etwas vor" (S. 537). Nach einigem Geplänkel mit Hinweisen auf antike Autoren kommt M. dann zur Sache und konstatiert ganz entschieden: " ... Es gibt kein die Welt beschäftigendes Buch, menschlich oder göttlich, dessen (H. S.: inhärente) Schwierigkeiten durch Interpretation beseitigt worden wären ... In Deutschland habe ich gesehen, dass Luther ebensoviel, ja noch mehr Zwistigkeiten und Zerwürfnisse über die zweifelsfreie Deutung seiner Auffassungen hinterlassen hat, als er über die rechte Auslegung der Heiligen Schrift hervorrief" (S. 539). Sind diese gegenüber der Reformation kritischen Äußerungen M.s vielleicht nur Pflichtübungen, um seine Rechtgläubigkeit zu erweisen, ähnlich wie seine Lobhudeleien gegenüber der katholischen Kirche vor allem in der "Apologie für Raymond Sebond"? Ich muss gestehen, dass ich die Polemik von M. gegen die aufrührerischen Protestanten und seine Verteidigung der katholisch fundierten politischen Ordnung zunächst nicht verstehen und beides nicht als ehrlich gemeint akzeptieren konnte. Aber es könnte sein, dass M. schon damals weiter gedacht hatte, nämlich neben den offenkundigen Mängeln des katholischen Christentums (Inquisition, Verfolgung Andersgläubiger etc.) auch die mehr versteckt impliziten Schwächen der protestantischen Position einschätzen und deren zukünftige Konsequenzen voraussehen konnte. Dazu war er nur in der Lage, wenn er radikaler als seine Zeitgenossen denken und sich mit der Wurzel und dem Kern des Glaubens auseinandersetzen konnte.

Hatte er vielleicht schon gesehen, dass die Protestanten am Grundübel des jüdisch-christlichen Glaubens, am Monotheismus, keineswegs gerüttelt hatten, sondern ihn gegen die katholisch-polytheistischen Tendenzen (Marienglaube, Heiligenverehrung etc.) sogar verteidigten? Hatte er die Gefahren eines biblischen Fundamentalismus früh erkannt oder vorausgesehen? Hatte er gespürt, dass die protestantischen Sekten enger, hinterwäldlerischer und beschränkter wurden als es die weltumspannende, weltfreundliche und im Ritus sinnenfreudige Katholizität unter den Renaissance-Päpsten war? Darauf bezogen ist auch zu bedenken, dass ungefährdete Monopole, für die es im Innern und Außen keine Gegner oder Konkurrenten mehr gab, sich vielleicht in Richtung auf Weltlichkeit und interne Reformen weiterentwickeln können (was manche sogar von einem siegreichen Nationalsozialismus bzw. von einem so lange schon dominierenden Stalinismus erhofften): Technische Rationalität würde sich durchsetzen, Schlechtes würde wegen erwiesener Schädlichkeiten korrigiert, Gutes würde schon wegen seiner Erfolge bekräftigt werden; die Machthaber würden sich eine eigene "Intelligenz" heranziehen, die dann zunehmend mehr Vernünftigkeit in das System einbringen könnte. Das kann eine weltumspannende Kirche mit eigenen Universitäten und mit "forschungsorientierten" Klöstern (vgl.Umberto Eco: "Der Name der Rose") vielleicht eher erreichen als eine eher provinzielle Kleinsekte! So oder ähnlich könnte M. gedacht haben, etwa in einer (von ihm allerdings nie öffentlich geäußerten) Spekulation von folgender Art: Lieber ein Katholizismus, der seiner Macht gewiss auch Kunst und Wissenschaften zulässt, einen Montaigne sogar protegiert, als ein obskurantistischer Protestantismus, der in der fundamentalistischen Auslegung der Bibel päpstlicher als jeder zeitgenössische Papst sein könnte!

Ich möchte nun versuchen, eine Gesamteinschätzung der religiös-weltanschaulichen Position von M. vorzulegen. In meiner Sicht werden in den verschiedenen Kritiken, die M. gegen das Christentum und den Monotheismus vorbringt, nicht zufällige Einzelheiten summiert, sondern in ihnen kombinieren sich Merkmale, die stimmig zusammenpassen und zu einem in sich geschlossenen geistigen Ganzen gehören. Erst in der Zusammenfassung wird deutlich, was M. am Christentum insgesamt ablehnt, auch wenn er vermeidet, es auf diese Weise selber auf den Punkt zu bringen: Seine Kritik richtet sich gegen die religiöse Intoleranz, gegen den Fanatismus, gegen religiöse Alleingültigkeitsansprüche und weltliche Vorherrschaftsideen, gegen philosophische Einseitigkeiten und gegen Phantasmen der Auserwähltheit; ich selber würde mit eigenen Worten sagen: gegen den Monotheismus und seine jeweils alleinseligmachenden Kirchen. Mehr noch als die meisten Philosophen nach ihm hat M. die Denkfesseln des Christentums und der dem Monotheismus verpflichteten Philosophien abgestreift. Sein Philosophieren ist nicht mehr christlich.