2.5.3.8. Ein Meister subversiven Schreibens!

Trotz der nicht zu überlesenden Spitzen gegen Gott, Glauben und Kirche könnte ein Leser dennoch zu dem Schluss kommen, Montaigne sei in den hier zitierten Passagen "im Grunde" und "eigentlich" als gut katholischer Christ erkennbar. Bei solchen Kontrasten liegt es nahe zu fragen: Was gilt nun, die Beweihräucherung Gottes und der katholischen Kirche oder die ironische und oftmals offen kritische Distanzierung davon? Müssen wir dem M. die kriecherische Selbstverkleinerung zurechnen oder das selbstbewusste Einsetzen der eigenen Kompetenz? Wo lügt M. und wo sagt er die Wahrheit? Was meint er wirklich? Da bietet sich an, M. selber zu befragen. Vielleicht kann uns M. selber Auskunft darüber geben, ob er diese Elogen, diesen Schwulst aus Lobpreisungen und byzantinischen Unterwerfungen wirklich selber so gemeint hat? M. hat dieser Fehleinschätzung vorgebeugt, indem er, allerdings etwas versteckt in Überlegungen zur Eitelkeit (auch des Schriftstellers), die bemerkenswerte und beherzigenswerte Aufforderung formulierte: "Sobald die Aussagekraft eines Satzes daher nicht meinem Maß entspricht, sollte ein gewissenhafter Leser es ablehnen, ihn als den meinen anzuerkennen" (S. 485). Über die Gründe für Äußerungen, die nicht seinem Stil und nicht seiner eigenen Meinung entsprechen, äußert M. sich nur in Andeutungen: "Wer freiweg hierüber schreiben wollte, müsste sich weit hervorwagen und dürfte keinen Schaden scheuen ..." (S. 501) und auf der nächsten Seite: "... Hinzu kommt, dass mich vielleicht besondere Dinge zwingen, manches nur halb zu sagen, widersprüchlich zu sagen, verworren zu sagen" (S. 502). Über die vielen Geschichten und Zitate seiner Essais erklärt M. selber: "Oft tragen sie über ihre Beziehung zu meinem Thema hinaus den Keim zu vielschichtigeren und gewagteren Überlegungen in sich und lassen sowohl für mich, der ich mich nicht weiter hierüber äußern will, als auch für jene, die sich auf meine Denkweise einzustimmen vermögen, einen feineren Unterton mitschwingen" (S. 130). M. deutet also mehrfach an, dass er manches nur andeutet. Ist das nicht deutlich genug? An anderer Stelle (S. 494) ist klar erkennbar, wie M. aus dem Konflikt zwischen gebotener Vorsicht und seiner Bereitschaft zur freimütigen Äußerung schließlich herauszukommen versucht, nämlich sich manchmal mit Andeutungen zu begnügen : "Deshalb mache ich hier, soweit das die Schicklichkeit erlaubt, meine Neigungen und Gefühle schriftlich bekannt, Noch bereitwilliger und freimütiger täte ich es unter vier Augen [H. S.: also ohne Zeugen!] jedem gegenüber, der Näheres zu erfahren wünschte. Doch auch so [- tröstet er uns, die wir den lebenden Montaigne nicht mehr fragen können!] - wenn man diese Memoiren recht betrachtet, wird man finden, dass ich darin alles gesagt, zumindest alles zu verstehen gegeben habe. Was ich nicht rundheraus sagen konnte, darauf weise ich mit dem Finger", und er hat dazu gleich ein passendes Zitat parat:

"Es reicht, nur wen´ge Dinge zu benennen, den Rest wird jeder Kluge selbst erkennen".

Wir haben verstanden!

M. traute sich, in seinen Essais mit Mannesmut und Realo-Vernunft gegen Fanatismen anzugehen, aber er wusste offenbar auch, wie riskant es in seiner Zeit und Umwelt war, als Nichtchrist (Heide, Ungläubiger etc.), der er ja war, seine Meinung über Fragen der Religion offen vorzutragen; das nötigte ihn zu einem Mindestmaß an Vorsicht gegenüber der Inquisition. Dennoch riskierte er es, Folter und Gewissenszwang, "Hexen"verfolgung etc. entschieden zu kritisieren, gleichzeitig abgesichert durch verharmlosende Rahmentexte und auch durch die Verwendung unverfänglicher Titel einzelner Essais als "Versteckmittel für gefährliche Inhalte" (H. Friedrich, S. 324). So hat er im 3. Buch das Kapitel 11 überschrieben mit "Des boyteux" (Von Hinkenden), diskutiert darin aber vor allem und ausführlich über Hexenprozesse. Seine Täuschungsmanöver waren oftmals allzu durchsichtig, erfüllten aber ihren Zweck: alle (z.T. krass übertriebenen) Glaubensbeteuerungen dienten nur seinem Schutz vor Folter und Tod; es sind von der Kirche erzwungene Unterwerfungen, die er an mehreren Stellen auch so nennt. Andererseits konnte M. auch gewusst haben, dass ein zurückgezogener Philosoph, der von der Masse nicht gelesen und von vielen Lesern nicht voll verstanden wird, selbst als Atheist ungefährlicher für die Kirche war als ein populärer Sektengründer!

M. hatte so seine Tricks, sich gegenüber der Inquisition als rechtgläubig und gehorsam im Glauben hinzustellen. So verurteilt er zwar ganz entschieden die Hexenverfolgung und Folter, aber dies mit einer Einschränkung: sie sei abzulehnen, außer Gott selbst habe in seiner unendlichen Weisheit die abgrundtiefe Sündhaftigkeit eines vom Teufel besessenen Menschen erkannt und ihn zur ewigen Höllenstrafe verdammt. Aber, wiederum aber, wer will so vermessen sein, Gottes eigene Gedanken erraten zu können? Menschen (also offenbar alle Menschen!) dürfen sich nicht herausnehmen, Gott solches Urteilen und Strafen abzunehmen, denn das steht nur Ihm zu! Oder die andere Argumentation: Ich frage nur. Mögen doch die geistlichen Führer uns die Wahrheit verkünden! Ich gebe keinen Rat, stelle keine Forderungen. Das ist Sache der geistlichen Herren und des Herrn. H. Friedrich betont zu Recht, dass M. "zuweilen unter dem Vorwand, bloß unverbindliche Meinungen auszusagen, kritische Schatten über christliche Lehren wirft" (S. 103). Aber immer wieder beteuert M.: Ich unterwerfe mich .... der Prüfung, der Kritik, der Zensur, dem höheren Urteil, der Entscheidung der Kirche, der staatlichen Macht.

Häufig lenkt M. seine Kritik am Christentum auf gefahrloser angreifbare Ziele um. Er greift dann das Christentum nicht direkt an, sondern kritisiert es in seinen vor- und außerchristlichen Entsprechungen, also bezogen auf Theorien oder Glaubensvorstellungen der Antike, der Stammesreligionen oder des Islam, die denen des Christentums gleichen. Gern kritisiert er auch Mohammed für Ansichten, etwa über Allahs Gebote, die ganz ähnlich oder sogar identisch auch vom Christentum vertreten werden. Auch manche Kritik M.s an den griechischen Göttern trifft schließlich den Gott der Christen, denn (in meinen Worten gesagt) dieser Gott, auch einfach "Gott" genannt, ist auch ein Gott, einer der Götter, und ein solcher Vergleich ist von M. durchaus beabsichtigt und riskiert. In solchen Fällen schreibt er lieber "die Alten meinten" als "ich meine", oder "es gibt Völker, die glauben tatsächlich ...", aber was dann von M. als deren Glaube beschrieben wird, ist keineswegs absonderlicher als so manche christliche Glaubenswahrheit oder -praxis, und in manchen Fällen sogar verblüffend ähnlich damit. So ist M. in der Tat ein Experte des subversiven Schreibens, ein kaum zu übertreffendes Modell für das Zurgeltungbringen von Wahrheit in einem totalitären System. Er war dabei zu einem Versteckspiel gezwungen, in dem er es bis zur höchsten Meisterschaft brachte, bis zu dem Punkt, dass einige ihn für einen Apologeten des Katholizismus halten konnten. Aber auf diese Weise hat er es geschafft, seine Essais zu veröffentlichen und dennoch am Leben zu bleiben und eines natürlichen Todes, sogar im eigenen Bett, zu sterben. H. Friedrich bemerkt dazu, dass der Mangel an Orthodoxie in M.s religiösen Äußerungen erst ans Licht kam, als strengere Geister des 18. Jahrhunderts, etwa Pascal, ihn prüften (S. 105).