2.5.3.4. Was für ein Buch!

Michel de Montaigne begann mit knapp 40 Jahren damit, sein Wissen, sein Denken und sein ganzes Erleben in Essays (in "Versuchen"!) zu Papier zu bringen und als Buch zu veröffentlichen, und zwar, wie er selbst betont, für seine Angehörigen und vor allem für seine Freunde, was wohl eine Schutzbehauptung war. Von 1572 - 1592, also insgesamt 20 Jahre lang, arbeitete er an diesem Buch; bis kurz vor seinem Tode hatte er den Text immer neu ergänzt und korrigiert. Trotz seiner langen Vorbereitungs- und Entstehungszeit ist dieses Buch dennoch ein ganz großer Wurf, kühn in der Zielsetzung und ersten Anlage, konsequent im Beibehalten und Ausbauen der einmal eingenommenen weltanschaulichen Position und wissenschaftlichen Methode, und tapfer im Aushalten der damit verbundenen Risiken bis zum Tode. Wenn ich die "Essais" (so die alte Schreibweise, die M. selber verwendete) in den letzten Monaten zur Hand nahm und durcharbeitete, tat es mir jedes mal wieder leid, dass ich sie nicht schon als Jugendlicher lesen konnte. Ein frühes Vertrautsein mit den Essais hätte mir manchen geistigen Umweg ersparen können. Aber weil mich solche Umwege auch ohne Kenntnis dieses Buches so nahe an eine ähnliche Grundposition wie die von M. herangeführt hatten, sind mir seine Essais heute um so wertvoller!

Ich musste 70 Jahre alt werden, um an diesem Geburtstag eine vollständige Ausgabe der Essais geschenkt zu bekommen, und zwar die überragend gute Übersetzung durch Hans Stilett, die 1998 im Eichhorn-Verlag (Frankfurt/M.) erschienen ist. Im Vergleich mit der mir vorher zugänglichen braven Übersetzung einer Auswahl der Essais durch Johann Joachim Bode (1730 - 1793), 1976 im Inselverlag als Taschenbuch erschienen, ist die Übersetzung von Stilett wirklich geschliffen und genau auf den Punkt treffend (man verzeihe mir, dass ich mir ein Wortspiel mit dem Namen des Übersetzers erlaubt habe: ein Stilett ist "ein kleiner spitzer Griffel oder ein kleiner scharfer Dolch mit dreikantiger Klinge"!). Diese Übersetzung ist vor allem erst einmal korrekt und sinnerschließend. Stilett hat dazu sehr viele deutsche, englisch-amerikanische, italienische und neufranzösische Übersetzungen der letzten 400 Jahre vergleichend herangezogen, deren Vorzüge genutzt und deren Fehler vermieden. Dazu kommt, dass Stilett selber ein guter Stilist ist und offensichtlich selber differenziert sich einfühlen, klar denken und prägnant formulieren kann. Ganz im Sinne des wehrhaften Soldaten und Autors M. ist Stiletts Übersetzung gleichermaßen scharfzüngig, ironisch funkelnd, kurz und bündig, präzise und effektvoll. M. hätte sich keine bessere Übersetzung ins Deutsche wünschen können. Im Folgenden werde ich mich daher in Zitaten nach Möglichkeit auf diese Übersetzung beziehen.

Bevor ich auf einzelne Themenbereiche dieses Buches eingehe, will ich versuchen, die Essais quasi von außen als Ganzes zu charakterisieren und als literarische Leistung zu würdigen. In Stiletts Übersetzung sind es 521 Seiten Text, dazu noch 40 Seiten in den Text eingeschobene Faksimiles aus der letzten von M. selber besorgten Ausgabe (Exemplaire de Bordeaux, 1589) mit eigenhändigen Korrekturen von M. Gemessen an den 1782 Seiten meiner Ausgabe des Alten Testaments ist das Buch für den geübten Leser noch gut lesbar und noch ganz gut in einer verregneten Ferienwoche zu schaffen, zumal es auch über weite Passagen kurzweilig und unterhaltsam ist und auch noch heutigen Lesern mehr Gewinn bringen kann als das Alte und Neue Testament und der Koran zusammen. Die gute Lesbarkeit ist nicht nur durch den interessanten Inhalt, sondern auch dadurch begründet, dass M. als erster innerhalb des philosophischen Schrifttums der romanischen Völker die Ergebnisse seines Philosophierens, obwohl gedanklich auf hohem Niveau, dennoch ausschließlich in der alltäglichen Volkssprache seines französischen Heimatlandes vermittelt hatte, und zwar ganz bewusst: M. berief sich gern auf Sokrates, der "wie die Weiber, Kutscher und Tischler redete". H. Friedrich sieht darin "antischolastische Tendenzen" (S. 329) und einen Verzicht auf "neologistische Entartung" (S.338). Erst an die 400 Jahre später haben Philosophen aus der Schule der Analytischen Philosophie, insbesondere der späte Wittgenstein der "Philosophischen Untersuchungen", außerdem auch Philosophen wie G. Ryle, J. L. Austin, J. Wisdom, N. Malcolm und in Deutschland Eike von Savigny die Brauchbarkeit einer differenzierten Alltagssprache für die Klärung philosophischer Probleme klar erkannt und programmatisch vertreten. Für diese philosophische Richtung ist die "Normale Sprache" so etwas wie eine Metasprache für alle aus ihr abgeleiteten oder ableitbaren Fachsprachen. Aber ein Wort wie "Metasprache" hätte M. wohl gar nicht verwenden wollen; er charakterisiert die Sprache der von ihm bevorzugten Autoren und damit auch seine eigene Sprache anschaulich und treffend: "Die Sprache, die ich liebe, ist einfach und natürlich: auf dem Papier nicht anders als aus dem Mund; eine Sprache voller Saft und Kraft, kurz und bündig, weniger geschniegelt und gebügelt als unverblümt und ungestüm;...fern aller Geziertheit, gewagt, ...nicht schulmeisterlich, nicht pfäffisch, nicht advokatisch, sondern soldatisch..."(S.93). Er schließt sich damit literarischen Traditionen an, als deren wichtigste Vertreter aus der von M. genutzten lateinsprachigen Literatur der Antike zunächst Cicero (106 - 43 v.Chr.) zu nennen wäre, und nach ihm auch Horaz (65 - 8 v.Chr.) - "ein Meister, der es verstand, das tief und hell Gesehene, das kühn Gedachte mit kühnen und gewählten Mitteln zu sagen" (H. Friedrich, S. 52) -. Auf Cicero wiederum berief sich der Rhetorik-Lehrer Quintilian (30 - 90 n.Chr.), Autor der "Institutio oratoria" (Ausbildung des Redners), die über F. Petrarca (1304 - 1374), der dieses Werk teilweise wiederentdeckt hatte, M. zugänglich geworden war. Quintilians Überlegungen zum mündlichen und schriftlichen Stil hatte M. nicht nur als Theorie übernommen und propagiert, sondern in Anlehnung an die klassischen Dichtungen auch in seinen eigenen Essais schöpferisch umsetzen können.

Wenn ich die Essais als ganzes Buch zu charakterisieren versuche, dann könnte ich es - etwas flapsig - mit einem großen Kuchenbrot oder Stollen vergleichen, zusammengerührt und gebacken aus einem durchaus nahrhaften Teig (das sind die vielen, vielen, frei wuchernden und überquellenden Anekdoten, Berichte, Geschichten, Fabeln und Mythen, Zitate und Dispute aus allen Zeiten, vor allem aber aus der Antike, und aus aller Welt, der Alten und der Neuen), das Ganze mit etwas christlichem Zuckerguss versehen, der sich, Gott sei Dank, mit einiger Umsicht dann doch abheben und entsorgen lässt, vor allem aber, in diesem Teig fast versteckt, eine erkleckliche Anzahl an köstlichen Rosinen, Mandeln und Nüssen (nämlich freigeistigen Gedanken!), die man bei einiger Geduld an vielen Stellen finden und genießen kann. Aber man muss dazu das ganze Buch lesen (es lohnt sich schon wegen des "Teigs", vor allem aber wegen der Rosinen!). Ich vergleiche die Essais in dieser Hinsicht mit der Bibel und dem Koran: alle drei Bücher sollte man wenigstens einmal im Leben ganz vom Anfang bis ganz zum Ende gelesen haben. Ich bin sicher, dass bei dem dann möglichen Vergleich die Essais als mit Abstand besonders lesenswert abschneiden. Davon kann sich jeder selbst überzeugen, der sich einmal diese Mühe gemacht hat, bzw. im Falle der Essais: der sich diese Freude bereitet hat.

Er wird dabei auch merken, dass dieses Buch zum Wiederlesen einlädt. Ein inzwischen leider verstorbener Freund und Freigeist pflegte die Essais auf seinem Nachtschränkchen parat zu halten, um vor dem Einschlafen, bei zeitweiliger Schlaflosigkeit oder nach einem frühmorgendlichen Aufwachen dieses Buch zur Hand zu haben, in ihm blättern und ein paar Seiten lesen zu können. Damit man beim Immer-wieder-mal-Nachlesen die interessierenden Stellen (die "Rosinen"!) schneller und gezielter wiederfinden kann, empfiehlt sich die von Karl Marx praktizierte Methode, ein gutes Buch "mit Bleistift" zu lesen: "...er bedeckte die Ränder mit Bleistiftstrichen und unterstrich (die) Zeilen...(und) konnte sich manchmal ein Ausrufungs- oder Fragezeichen nicht versagen... Das Unterstreichungssystem erlaubte ihm, mit großer Leichtigkeit die gesuchte Stelle in einem Buche wiederzufinden" (Paul Lafargue: Karl Marx, Persönliche Erinnerungen, aus: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin 1965, S. 322). Bibliophile mögen mir diesen Vorschlag verzeihen. Ich respektiere durchaus die ästhetische Qualität dieses sehr ansprechend gestalteten Buches, aber ich meine, dass man mit einem aktiven Lesen, eben mit Bleistift, auch seinen Inhalt ganz besonders estimieren kann! Und ich denke, dass Montaigne auch so gelesen hat.

Gemessen an seinem "eigentlichen" Beruf als Schlossherr, Jurist, Bürgermeister, Diplomat und vielleicht auch Soldat war M. selber sehr belesen und umfassend gebildet. Offenbar nutzte er nach seiner humanistisch orientierten Erziehung, Schul- und Universitätsausbildung zusätzlich, und zwar sehr intensiv und mit großem Gewinn, die etwa 1000 Bände der Bibliothek seines Freundes Etienne de La Boetie, die er nach dessen Tod geerbt hatte, und speziell dessen Übersetzung des Plutarch. Um M.s weitere Gewährsleute einschätzen zu können, habe ich einmal, allerdings nur in Bodes auf 9 von 61 Kapiteln beschränkter Auswahl der Essais, die dort von M. genannten und zitierten Autoren ausgezählt und dann nach der Häufigkeit der Nennungen geordnet. In dieser Auswahl zitierte M. am häufigsten Horaz, dann Cicero, Lukrez, Seneca, Vergil, Properz, Platon (mit Sokrates), Ovid, Juvenal, den schon genannten Plutarch, Martial, Catull, Lucan, Quintilian und noch einige andere. Es sind weitgehend "römische", jedenfalls lateinisch schreibende Autoren, interessanterweise fehlte hier der dem M. so geistesverwandte Marc Aurel, der wohl als ein "Christenverfolger" (was er als Person gar nicht war) nicht zitiert werden konnte. Vielleicht beziehen sich die folgenden Bemerkungen des M. auf Marc Aurel: "Angesichts so vieler Anleihen (H.S.: bei anderen Autoren) bin ich froh, hier und da etliche tarnen zu können, indem ich sie zu neuer Verwendung umforme und verkleide...Für jede Quelle, die ich nenne, verschweige ich zwei...und zuweilen füge ich sie (die Zitate) meinem Argumentationsgang so nahtlos ein, dass man schon einen guten Blick braucht..., um sie wiederzuerkennen..."(S. 533).

H. Friedrich nennt neben diesen (spät-)antiken Autoren auch noch eher zeitgenössische wie Erasmus, Rabelais, Ariost (1474 - 1533), die in M.s Werk mitschwingen, und er verweist darauf, dass insbesondere das Menschen- und Selbstinteresse M.s bis auf Petrarca zurückgeht. Die griechische Literatur war M. wohl eher über römische Kompilatoren und Kommentatoren zugänglich geworden. Weitgehend unbeachtet ließ M. die vorsokratische und epikureische Götter-, Atom- und Seelenlehre (H. Friedrich, S. 70). M. war mehr Empiriker, ihm lag mehr an anschaulichen Beschreibungen als an abstrakten System-Konstruktionen. Einen großen Einfluss auf M. hatten dagegen die antiken und spätantiken Texte, in denen es um das Verstehen des Todes in der Erkenntnis seiner Lebensinhärenz ging (Friedrich, Anm. 226). Ich möchte nun noch ein paar weitere Autoren hervorheben, auf die M. sich direkt oder über Vermittler bezogen hat. Als erster wäre da wohl der Vorsokratiker Heraklit zu nennen, dessen Fragment B 20 (Diehls-Kranz) wohl in M.s Reflexionen über den Tod eingegangen ist, der aber M.s Denken auch in einigen anderen Hinsichten beeinflusst hat, die von H. Friedrich herausgearbeitet worden sind und auf die ich am Schluss dieses Montaigne-Kapitels zurückkommen werde. Als zweiter wäre Sokrates hervorzuheben. H. Friedrich hat sich in seiner Monographie (S. 55 - 58) eingehend mit der Frage befasst, welchen Einfluss Sokrates und seine von Platon vermittelte Lehre auf M. hatten. Er geht davon aus, dass Sokrates ein Weiser ganz nach M.s Geschmack ist. Gerade weil M. besser als seine Vorgänger und Zeitgenossen den Sokrates verstand, habe er ihm in den Essais zu einer Wiedergeburt verhelfen können. Nach H. Friedrich rühmt M. an Sokrates, dass er ihm den Blick gelenkt habe auf das einzig Belangvolle, auf die Selbsterkenntnis des Menschen. Er sieht in Sokrates aber auch den "Skeptiker und Agnostiker, der Altgeglaubtes auflöst, ... den Befreier des ursprünglichen..., heilsam verwirrenden Denkens aus den Erstarrungen der Schulphilosophie", der mit seinem Denken Anstöße gab zur geistigen Bewegung und zum kritischen Gewissen. Dabei sei Sokrates ein schlichter und ungezwungener Mensch geblieben, "einer der ist wie wir alle" (H. Friedrich, s. 278), der dem Natürlich-Einfachen vertraute und befähigt war, "in der Sprache der Bauern, der Tischler, der Kutscher, der Weiber " zu sprechen. Es war für M. wichtig, so zu sein, wie Sokrates war, so menschlich. Sokrates habe dem Menschen Zutrauen zu sich selber gegeben, eine immer wieder benötigte Hilfe zur Humanität. In jeglicher Lage tat er das Gemäße, er hatte Mut in der Schlacht, und harrte aus in den Widrigkeiten des Alltags. Sokrates habe lebend erfüllt, was dem Menschen von Natur zugewiesen sei, und habe seine Weisheit mit den Grenzen unserer Natur zu versöhnen vermocht. Aus simpler Naturgefolgschaft sei Sokrates ein bewunderungswürdiger Bewältiger des Sterbens gewesen, einer der "Mut zum Tod hat" (Friedrich, S. 278). Nach H. Friedrich sieht M. in Sokrates den heiteren Menschen, der seine Weisheit im Spiel und Ernst der Ironie flüssig zu halten vermag, das Mühsame ins Leichte auflösend, der fähig war, so leicht und heiter ins Natürliche zu gleiten, in den entspannten Freuden von Leib und Seele. Dazu gehöre seine Kunst, sich zu erholen im Trunk oder im Tanz oder im Spiel mit den Kindern. Noch der alte Sokrates habe sich verliebt und habe darüber gescherzt. Wir werden noch sehen, wie sehr vieles, was Hugo Friedrich in der Sicht Montaignes über Sokrates aussagt, tatsächlich auch für M. selber zutraf.