2.5.2.7. Epikurs Beiträge zur Erkenntnistheorie

Bei seinen vielen Erklärungsansätzen folgte Epikur nicht etwa nur dichterisch irgendwelchen freien Assoziationen, sondern er beachtete Kriterien, die zwar noch nicht die mathematische Stringenz einer formalisierten Theorie hatten und auch noch nicht das Design einer experimentellen Überprüfung betrafen, aber immerhin doch schon auf der Ebene genauer Beobachtung und eingehender Beschreibung anwendbar waren: Es war ihm wichtig, und so betonte er es an vielen Stellen (SS. 199 - 205), sich beim Erklären an die reinen Fakten zu halten. Es ging ihm darum, dass seine Erklärungsansätze nicht im Widerspruch zur Kenntnis anderer sichtbarer Erscheinungen oder Vorgänge standen, die Menschen mit ihren Sinnen in ihrem Erfahrungsbereich in der Natur beobachten und gedanklich erfassen konnten, sondern so weit wie möglich mit ihnen übereinstimmten. Man solle sich bei Detailproblemen an das halten, was möglich sei. Insbesondere die Theorien über Himmelserscheinungen sollten mit dem, was man über irdische Phänomene wissen könne, in den Grundzügen übereinstimmen, etwa nach dem Prinzip: "Wie auf Erden, so auch im Himmel".

Epikur hatte somit auch eine bis heute interessante und tragfähige Position der Erkenntnistheorie erarbeitet. Man könnte ihn in heutiger Wissenschaftssprache als Empiriker bezeichnen, von den beobachtbaren Phänomenen ausgehend, die Beobachtungen sammelnd, vergleichend, ordnend und klassifizierend, und sie immer wieder als Kriterium und Richtscheit ("kanon") nehmend für die Einschätzung der Richtigkeit und Wahrheit von Aussagen über das Beobachtete und Erschlossene. Epikur hat dies mit einem Minimum an Mathematik und Geometrie getan, was ihn sympathisch macht für Menschen, die sich selber damit schwer tun. Bei dem ohne jeden Zweifel hochbegabten Epikur wird die Abneigung gegen Mathematik andere Gründe gehabt haben, etwa die Kenntnis Zenonscher Paradoxien, in denen dieser Philosoph mit mathematischen Mitteln und "more geometrico" zu beweisen vorgab, dass Achill, der schnellste Läufer unter den Griechen, eine vor ihm gestartete Schildkröte nicht, ja sogar nie einholen könnte. Der von Zenon vorgelegte Beweis klingt zunächst plausibel, aber jeder, der inzwischen die Mathematik unendbarer Folgen verstanden und zur Grenzwertberechnung weitergeführt hat, weiß es besser, und natürlich auch jeder, der ganz ohne Mathematik davon ausgehen kann, dass Achill die Schildkröte ganz sicher überholen wird, wenn er nicht zuvor über Zenons Paradoxien zu Tode gestolpert ist. Selbst anscheinend scharfsinnige mathematische Ableitungen können nämlich in der Realität völlig in die Irre führen und jedes zielführende Fortschreiten und Weiterlaufen behindern.

Vor solchen Fehlschlüssen war Epikur bewahrt, weil er auch ein erster Theoretiker der Psychologie war. Seine Erkenntnistheorie schließt die verbesserte Einsicht in Vorgänge der Wahrnehmung und des Denkens (also der Allgemeinen Psychologie) ein, insbesondere die Berücksichtigung der relativen Position des Betrachters zum betrachteten Objekt, die zu Wahrnehmungsverzerrungen und Täuschungen führen kann. Er hat sich gründlich mit der Unterscheidung von positiven und negativen Gefühlen befasst und dabei auch entwicklungspsychologisch und sogar ethologisch (tierpsychologisch) argumentiert. Ich will nicht die wenigen Fehleinschätzungen des Epikur anführen und diskutieren, beispielsweise dass sich beim Sterben die Seele vom Körper "trennt", denn im übrigen hat er sehr moderne Auffassungen über psychophysische Zusammenhänge. Es war und ist mir wichtiger, an Positiv-Beispielen Epikurs wegweisende Ansätze zu verdeutlichen, also insbesondere die Gedanken, in denen er vor etwa 2300 Jahren präzise formulierte, was man auch heute noch als gesicherte Erkenntnis vertreten kann. Epikur war seiner Zeit weit voraus. Wir sollten wertschätzen, was er uns an noch heute gültigen Erkenntnissen hinterlassen hat.