2.4.10.9.3. Von der „Erblindung“ zur Vision: Hitler als Erretter Deutschlands

So war es für Hitler naheliegend, dass er sich von Wien nach München begab („in die Stadt seiner Bestimmung“, Rißmann S. 44), und dort, obwohl Österreicher, sich nach Anbruch des ersten Weltkriegs freiwillig zum Kriegsdienst im deutschen Heer gemeldet hatte. Er hatte es bis Kriegsende nur bis zum Gefreiten gebracht, wurde allerdings als mutiger Meldegänger mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, überreicht durch seinen jüdischen Vorgesetzten. Die besondere Art, wie der in seiner Jugend so sehr von Deutschland begeisterte Hitler die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg erlebte, führte bei ihm zu einem weiteren quasi-religiösen Erweckungserlebnis von großer Intensität und Reichweite, das schon Merkmale eines paranoiden Wahnsystems, insbesondere eines Erlöserwahns, aufwies. Auslöser war ein subjektiv schwerwiegendes persönliches Erlebnis, dem Hitler selber eine schicksalsentscheidende Bedeutung beimaß, nämlich seine Kampfgas-Vergiftung am Ende des Ersten Weltkriegs, durch die er wenigstens zeitweise „erblindet“ war und im Lazarett behandelt werden musste. In seinem Buch „Mein Kampf“ schildert er, wie er als Dreißigjähriger (wie Jesus!) in dieser Situation seine eigentliche Berufung, eine Art Erweckungserlebnis erfuhr (die folgende Schilderung folgt Michael Rißmann, S 43/44): Während er „als blinder Krüppel im Lazarett lag, gelobte (er), nicht zu ruhen und zu rasten (!), bis die Verbrecher des November 1918 zu Boden geworfen sind. In „Mein Kampf“ beschreibt er später die Schlüsselszene. Die Nachricht von der Niederlage Deutschlands lässt den jungen Gefreiten zusammenbrechen. ‚Während es mir um die Augen wieder schwarz ward (H. Sch.: das war keine Blindheit, sondern eher ein hysterisches Symptom!), tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen. Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint’ (H. Sch.: eine bemerkenswerte Nähe von „Tod der Mutter“ und „Untergang des Vaterlandes“). Damit habe sich, so Hitler, eine innere Wende vollzogen. ‚In den Tagen darauf wurde mir auch mein Schicksal bewusst’ Die Berufung erfolgte prompt: ‚Ich aber beschloss, Politiker zu werden’“. Das war, wohlgemerkt, kein nüchtern-realistischer Berufswunsch, sondern ein Heilsversprechen in einer fast schon jesuanischen Formulierung, und es bedeutete eigentlich: „Ich aber sage euch, dass ich Deutschland erretten werde!“. Rißmann gibt dies an anderer Stelle (S. 56) sehr prägnant wieder: „Der auserwählte Knabe, geboren am Rande des Reiches und schon früh vom Bewusstsein seiner Sendung geprägt, zog nun ‚als einfacher, unbekannter Soldat’ aus, ‚um ein Reich zu erobern’“, und weiter: „Der Weg von der Vision das halblinden Soldaten vom Jahre 1918 bis zur Realität des nationalsozialistischen Staates währte lange. Gott hätte es schneller haben können: ‚Ich glaube, ich habe ein Recht darauf auszusprechen, dass, wenn mich das Schicksal damals an die Spitze gestellt hätte, dieser Zusammenbruch’ – die Revolution von 1918 – ‚ nie gekommen wäre’“. Ohne Kenntnis der bisher diskutierten Zusammenhänge könnte man diese (nachträgliche) Äußerung von Hitler noch für das Schwadronieren eines Biertisch-Politikers halten. Oder war es schlichter Größenwahn eines paranoiden Möchtegern-Jesus, wenn nicht sogar das Machtwort eines Propheten und Erlösers? Denn „in der Zeit tiefster nationaler Not“ fand Hitler in einer Erleuchtung zu einem neuen Glauben, in welchem seine bislang noch ungeordneten Vormeinungen zur festen Absicht einrasteten, als Politiker nunmehr Deutschlands durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg erlittene Schmach zu tilgen und Deutschland zu erretten. In diesem neuen Glauben fanden sich bisher noch disparate und sogar gegensätzliche Inhalte seines Denkens erstmals zu einer neuen geschlossenen „Gestalt“ zusammen, in der seine durch die nationale Niederlage und eigene Verletzung bedingte Verunsicherung und Verzweiflung durch eine unbezweifelbar evidente Neuorientierung aufgehoben wurden, was wiederum auf neue Weise zielführende Handlungen ermöglichte. Dazu gehörte auch die Wiedergewinnung und Verstärkung seiner schon früher großen Überzeugungskraft, wie man sie im engeren religiösen Bereich oft unter gerade konvertierten Proselyten oder in der Politik unter 180%igen Parteigängern vorfinden kann.