2.4.10.9.2. Vom christlichen Judenhass zum fanatischen Antisemitismus

Hitlers zunächst einfach christlich-katholische und später eher „alldeutsche“ (Lueger) Ablehnung der Juden änderte sich erst allmählich zu einem schon krankhaften Judenhass, und zwar im wesentlichen in zwei Stufen, bedingt durch zwei Katastrophen, eine persönliche und eine darüber hinaus nationale, die aber beide eine schon vorgeschädigte Psyche zusätzlich traumatisierten. Bei Hitler muss es schon in seiner Jugend, etwa in der Zeit, in der er vor seinem Freund August Kubizek in langen Monologen über Wagners Oper „Rienzi“ und über seine zukünftige eigene Rolle schwärmte, zu einem „Einschnappen“ präformierter Glaubens- und Weltanschauungsinhalte gekommen sein. Dabei konnte ältestes, z. T. schon abgesunkenes Kulturgut wie der Teufelsglaube, aktualisiert im Judenhass, verbunden werden mit „neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ (vulgo: „Darwinismus“) und mit je aktuellen eigenen Befindlichkeiten (Schul- und Weiterbildungs-Versagen, Leben in Armut, zeitweilige „Erblindung“, Deutschlands Niederlage 1918), und dann einmünden in ein negatives Gesamtbild von Schmach und Not und in ein positives Gesamtmotiv der künftigen Erlösung. Solche unrealistischen Vereindeutigungen waren verbunden mit kurzschlüssigen Identifizierungen (Teufel – Antichrist – Jude – Marxismus – Kapitalismus) und mit Umkehrungen oder Polwechseln (nicht die Juden, sondern die Deutschen und die Arier sind auserwählt).

Zunächst zur persönlichen Katastrophe Hitlers in Wien. Selber arbeits- und irgendwann auch mittellos, vorübergehend vielleicht auch obdachlos, jedenfalls auf eine Unterkunft in einem Wiener Männerheim angewiesen, begann Hitler voller Abscheu und Verachtung auf die in seiner Sicht tief unter ihm selber stehenden galizischen Ostjuden herabzusehen. Er sah sie als bettelarme, abgerissene, armselig im abgetragenen Kaftan gekleidete Hausierer, schlecht deutsch sprechend („jiddisch mauschelnd“), vollbärtig mit langen Schläfenlocken, immer mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf, schmierig, um jeden Heller feilschend, etc, etc. Diese „Outcasts“ waren natürlich keineswegs repräsentativ für „die“ Juden insgesamt, kaum vergleichbar etwa mit dem studierten Hausarzt der Familie Hitler. Sogar Antisemiten hatten in dieser Zeit eingeräumt, dass es auch „anständige“ Juden gab, vor allem unter den „getauften“ Juden. Aber es gab eben auch die „üblen“ Ostjuden, die dann für Hitler irgendwann zu den eigentlichen und „wirklichen“ Juden wurden. In dieser Weise wurden dann die Angehörigen einer anderen, eben der jüdischen Religion zu einem Gegenbild des eigenen Volkstums und schließlich zur „semitischen“ Rasse, polarisierend fortgeführt in den Gegensatz von Juden vs. „Nicht-Juden“, die wiederum erst später biologistisch (keineswegs biologisch!) mit den edlen blond-blauäugigen „Ariern“ gleichgesetzt wurden. Bei dem schon als Kind dunkelhaarigen Hitler selber hatte solche „Aufnordung“ nur geringe Erfolgschancen!

Vielleicht gab es auch bei Hitler selber so etwas wie eine „doppelte Buchführung“: einerseits nutzte er nach außen hin seine Geschäftsbeziehungen zu einem jüdischen „Kunsthändler“, der Hitlers selbst gemalte Bilder und Postkarten weiterverkaufte, und anderseits, zunächst etwas versteckt bleibend, hegte einen Abscheu gegen „den“ Juden, der für ihn fast so etwas wie der Teufel war. Über solche Differenzen und Übergänge sollte Hitler schließlich zum eifernden Verfolger und gnadenlosen Vernichter „der“ Juden werden, und wenn es nach ihm gegangen wäre, aller Juden.

In „Hitlers Wien“ (so der Titel des Buches von Brigitte Hamann; Piper, München, 1998) waren die Ostjuden schon zahlenmäßig, solidarisch unterstützt von einigen schon seit alters her ansässigen Westjuden, zur Konkurrenz zunächst für kleine Händler und gewerbetreibende, schließlich aber auch im Bankwesen und in akademischen Berufen wie Ärzten und Juristen geworden. Sie hatten eine Aufsteiger-Mentalität, legten ihr Erspartes investiv an, legten großen Wert auf eine möglichst gute Schul- und Universitätsausbildung ihrer Kinder, und konnten so innerhalb weniger Generationen zu den Neureichen gehören. Auf solche Juden bezogen kam es bei Hitler schon in Wien zu einem ersten Erweckungserlebnis: er sah dann „überall“ „immer“ „nur noch“ Juden, und die schlicht fremdenfeindliche Ablehnung der Ostjuden wandelte sich später zum Hass gegen jüdische „Kapitalisten“ und jüdische „Bolschewisten“, ja zum generalisierten Hass gegen die jüdischen Drahtzieher und Feinde Deutschlands in aller Welt.

„Der“ Jude war aber anfangs mehr Konkurrent als absolutes Hassobjekt. Hitler und mit ihm Goebbels versuchten zunächst sogar, „den“ Juden gerade dort zu übertrumpfen, wo er nach ihrer Ansicht am erfolgreichsten und am gefährlichsten schien: im politischen, propagandistischen und lügnerischen Gebrauch der Presse zur Irreführung der Öffentlichkeit. Allerdings benannten Hitler und Goebbels das, was sie selber taten, ganz anders, nämlich als „Volksaufklärung“, und von ihrer eigenen Propaganda sprachen sie fast noch wie die Jesuiten, die mit vergleichbaren Mitteln sich für die Verbreitung des Glaubens (lat.: propaganda fide) einsetzten.

Die zweite Katastrophe, der verlorene Erste Weltkrieg, trug zur Verschärfung von Hitlers Judenhass bei. Zur „Dolchstoßlegende“ gehörte auch bei Hitler die subjektive Evidenz der üblen Machenschaften der jüdischen Drahtzieher in den deutschen Großstädten, und zwar nicht mehr bloß in Wien, sondern gesteuert vom kapitalistischen als auch bolschewistischen Weltjudentum und seinen Helfershelfern, also in hochgradiger Generalisierung von Hitlers schon bestehendem Feindbild. Der Verdacht auf derartige Machenschaften kommt bei paranoid Schizophrenen häufig auf, war aber auch schon Inhalt der Verdächtigungen, mit denen christliche Inquisitoren wie Konrad von Marburg die „Hexen“, „Ketzer“ und andere „Diener des Teufels“ verfolgten. Glaube und Wahn sind in solchen Fällen manchmal nicht klar voneinander zu trennen.

In seinem Buch „Mein Kampf“, von ihm 1924 während der Haft in der Festung Landsberg verfasst (der 2. Band wurde 1927 veröffentlicht, danach viele weitere Auflagen), bezieht sich Hitler auf die Juden als Angehörige des „auserwählten Volkes“ (von Hitler selbst abschätzig in Anführungszeichen gesetzt, S. 65), und er fragt wenige Seiten vorher (S. 62), ob „seine Auserwähltheit darin zu suchen sein (sollte), ... dass es von der Natur zum Bazillenträger im Pelz der Mitwelt bestimmt sei?“ An anderer Stelle spricht er von „der jüdischen Herrschaftsanmaßung“ S. 355), oder vom Juden, „der alleine die Geschicke des Reiches an seinen Fäden hielt“ (S. 628), ....“um den lang ersehnten Plan einer Vernichtung ... Deutschlands durchführen zu können“ (S. 163). Am Ende seines Buches bezieht er sich auf „Frankreichs Armeen und die bolschewistische Kampftruppe des internationalen Weltjudentums gegen Deutschland. Wo immer wir in der Welt Angriffe gegen Deutschland lesen, sind Juden ihre Fabrikanten“ (S. 702). Wiederholt bezeichnet Hitler den internationalen Juden als den eigentlichen Drahtzieher (S. 99), den tatsächlichen Drahtzieher und wirklichen Organisator der Revolution (S. 585), der es fertig brachte, immer vorsichtig im Hintergrunde zu bleiben, „(der) redet, um die Gedanken zu verbergen oder mindestens zu verschleiern, und sein wirkliches Ziel ... schlummert wohlverborgen zwischen (den Zeilen)“ (S. 68), ...“unter dem Deckmantel“(S. 622).

Das Verhalten des Juden „enthüllte sich mir jetzt als ein ebenso kluger wie niederträchtiger Trick“ (S. 63), und fast schon bewundernd spricht Hitler von den „genialsten Tricks, die jemals erfunden worden sind“ (S. 165, ähnlich auch auf S. 212), oder dass „es in Wirklichkeit nur die ebenso geniale wie gerissene Kunst (des Juden) ist, dem Gegner ... die Waffe ... aus der Hand zu stehlen“ (S. 268), oder auf S. 623: „Es war ein geschicktes, raffiniertes Spiel, ...“, auf S. 628: „Und wieder betrieb er es in gerissenster Weise ...“ und schließlich auf S. 596: „ ...(der Jude, der) unendlich geschickt den Gedanken zu lancieren verstand“. Hitler charakterisiert „den Juden“ als „eisig kalten wie schamlos geschäftstüchtigen Dirigenten“ (S. 64), der „ebenso schlau“ (S. 596), der „klug genug“ ist (S. 585), „viel zu klug, um nicht schon damals zu verstehen“ (S. 622), ... „und wieder gelang es ihm“ (S. 627) ... „mit fabelhafter Schnelligkeit“ (S. 628), in dieser Geschicklichkeit des Juden, mit der er immer wieder Erfolg hat: „Der Jude hat jedenfalls das gewollte Ziel erreicht ... und ... lacht sich ins Fäustchen“ (S. 628).

Ist dies alles nur der Neid des ungebildeten Hinterwäldlers Adolf Hitler auf ihm überlegene jüdische Mitschüler vom Format des gleichaltrigen Ludwig Wittgenstein (26. 4. 1889 – 29. 4. 1951), dem der junge Hitler (20. 4. 1889 – 30. 4. 1945) ab 1903 in der Oberrealschule in Linz begegnet sein konnte? Ich meine, dass dies zu kurz greifen würde, denn „der Jude“ war für Hitler keine reale Person, sondern ein teuflisches Wesen, das als ein Numinosum zugleich bewundert und gefürchtet wurde: „Man wusste nicht mehr, was man mehr bestaunen sollte: ihre Zungenfertigkeit oder ihre Kunst der Lüge ... die dialektische Verlogenheit ... teuflische Gewandtheit dieser Verführer“ (S. 67), und wenn er die Juden als „die großen Meister der Lüge“ bezeichnet (S. 235), dann kommt darin sowohl anerkennender Respekt als auch unverhohlener Neid in tiefer Ambivalenz zum Ausdruck.

Denn Hitler selbst konnte in der Tat gezielt und krass lügen. Er tat dies ohne Gewissensbisse, denn in seiner Sicht logen nur die Anderen, die Gegner, insbesondere „der Jude“, und zwar auf schändliche, böse, ja teuflische Weise. Hitler selbst täuschte den arg-bösen Feind anscheinend nur aus achtenswerten Motiven, z. T. bloß defensiv, um sich seiner Haut zu wehren, aber auch aktiv und vorsätzlich, um ihn im Kampf überraschen zu können, und nachträglich, um sich herauszureden oder um etwas zu vertuschen. Aber das war in seiner Sicht etwas ganz anderes als die perfide Lügnerei „des Juden“. Allerdings muss ich W. Treher (Hitler - Steiner – Schreber. Die seelischen Strukturen des schizophrenen Prophetenwahns. Oknos, Emmendingen, 1990) recht geben, wenn er, wenn auch oftmals in der Wortwahl etwas unglücklich, die subjektive Wahrhaftigkeit des Adolf Hitler betonte, nämlich was dessen Glaubenskern betraf, ungeachtet aller Winkelzüge und Zwecklügen, die sich ja auch ein glaubensstarker Angehöriger des Opus Dei guten Gewissens einräumt, wenn er damit dem rechten Glauben und damit der eigentlichen Wahrheit zu Siege verhelfen kann!

Halten wir fest: sowohl der mehrfache Bezug auf das „auserwählte Volk“ als auch auf den „teuflischen Verführer und Meister der Lüge“ lassen den christlichen Hintergrund des Hitlerschen Judenhasses deutlich erkennen. Hinzu kommt noch, dass Hitler sich selbst und seine Vorläufer nach den gleichen Charakteristika eingeschätzt hat, nämlich als „überlegen genial“, wie er zuvor den teuflischen Juden beschrieben hatte, was das Konkurrenzverhältnis zwischen Teufel und Erlöser, zwischen auserwähltem Judentum und auserwähltem deutschen Volkstum klar zum Ausdruck bringt (S. 355): „Sie (diese jüdisch beeinflusste Presse) trommelt vor allem auf alle die Charaktere los, die sich der jüdischen Herrschaftsanmaßung nicht beugen wollen, oder deren geniale Fähigkeit dem Juden an sich schon als Gefahr erscheint. Denn um vom Juden gehasst zu werden, ist es nicht nötig, dass man ihm bekämpft, sondern es genügt schon der Verdacht, dass der andere entweder einmal auf den Gedanken der Bekämpfung kommen könnte, oder auf Grund seiner überlegenen Genialität ein Mehrer der Kraft und Größe eines dem Judentum feindlichen Volkstums ist“. Ein „Mehrer“? Da kommt schon wieder eine größenwahnsinnige Phantasie auf, denn der Kaiser galt vor allem in seinem Selbstverständnis als der Mehrer („Augustus“) des Reichs, und der „Gröfaz“ (Größter Feldherr Aller Zeiten) Adolf Hitler war, ähnlich wie auch Josef Stalin, unter den Genialen der genialste.

Der Verdacht, dass es sich bei Hitlers Judenhass um einen religiös fundierten Wahn handelt, bestätigt sich noch deutlicher, wenn wir dem nachgehen, wie Hitler nach eigener Bekundung „zum fanatischen Antisemiten geworden“ ist (S. 68). Hitler schildert diese Wandlung ausführlich und durchaus glaubhaft in längeren Passagen (S. 55 – 70) seines Buches „Mein Kampf“. Ausgangspunkt ist das Eingeständnis seiner anfänglichen Naivität gegenüber den Juden, naiv wie ein „schwächlicher Weltbürger“ (S. 68), von der er sich nachträglich distanziert: „“Ja, ich hielt sie sogar für Deutsche. Der Unsinn dieser Einbildung (!) war mir wenig klar“ (S. 55). Dann fielen ihm, vor allem in der Großstadt Wien, die Juden als etwas Besonderes, Anderes auf: „Wo immer ich ging, sah ich nur Juden...“ (S. 60), „es waren ... lauter Juden ...: Juden ... Es ergab sich immer das gleiche, unheimliche Bild“ (S. 65), da „wurde man auf Schritt und Tritt, ob man wollte oder nicht, Zeuge von Vorgängen ... S. 63) ... „sah ich nun in einem anderen Lichte ... enthüllte sich mir jetzt“. Und dann kam für Hitler die
Erleuchtung: „Als ich zum ersten Male den Juden in solcher Weise erkannte ... begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen ...“ (S. 64)... „Das eine war mir nun klar geworden: ... das wusste ich ...schon endgültig ...“ (S. 66), und zusammenfassend: „Es war für mich die Zeit der größten Umwälzung gekommen, die ich im Inneren jemals durchzumachen hatte. Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden“ (S. 68).

Dass es sich dabei um die Bekehrung zu einem neuen, im Grunde alten Glauben handelte, eng vergleichbar mit dem katholischen Glauben an den Teufel und seine teuflischen Helfershelfer, wird überdeutlich in Hitlers Ausruf auf S. 70, wo er es ohne jedes Gefühl für die Lächerlichkeit seines Anspruchs fertig bringt, einer weiteren Öffentlichkeit mit prophetischem Pathos zu verkünden: „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“. So spricht kein kalt berechnender Propagandist, sondern einer, der eine religiöse Erleuchtung zum neuen Glauben erfahren hat oder aber, etwas psychiatrischer formuliert, bei dem eine Wahnidee eingeschnappt ist, zu der er keine kritische Distanz mehr einnehmen kann, von der er nämlich selber überwältigt wurde.

Hitler war schon in einem christlich-judenfeindlichen Milieu aufgewachsen, und darauf aufbauend und ideologisch verallgemeinernd wurde er später „antisemitisch“, und dies nicht nur fanatisch, sondern in einer schon paranoiden Weise, in der bei ihm verschiedene, in seiner Kindheit und Jugend aufgenommene Anregungen zu einem überwertigen Komplex zusammengeflossen waren, der schon einem geschlossenen Wahnsystem vergleichbar war, das mit jedem Machtzuwachs der „Führers“ und Diktators im Effekt expansiver, verfolgender und schließlich mörderischer wurde.

Es kann also nicht die Rede davon sein, dass Hitlers Antisemitismus primär opportunistisch, nämlich propagandistisch begründet gewesen sei, etwa um den Massen eine Zielscheibe für aufgestaute Wut und zusätzlich geschürten Hass zu bieten, und um mit der Judenhetze das deutsche Volk gegenüber einem gemeinsamen Feind zu einigen. Eine solche Interpretation wäre eher als Rationalisierung einzuschätzen, als Versuch, die Brisanz eines alt tradierten und neu belebten Judenhasses, in dem sich Hitler und viele deutsche Christen einig waren, wegzuerklären. Dieser Judenhass hatte sich bei Hitler schon in seiner Wiener Zeit entwickelt, verbunden mit der Entwicklung seines überaus positiven Bildes vom Deutschen Reich.