2.4.10.8. Gesellschaftliche Vorbedingungen für Hitlers Ersterfolge 

Ähnlich wie die oft fast kampflos siegenden Helden Winnetou und Old Shatterhand in den Abenteuergeschichten von Karl May, Hitlers Lieblingslektüre bis ins Erwachsenenalter, erreichte Hitler vorwiegend durch Überraschungs-Taktiken ohne entschiedene Gegenwehr seiner Konkurrenten und Gegner über viele Jahre immer wieder verblüffende Erfolge, die ihm eine Bestätigung seiner Mission verschafften. Auf diese Weise konnte Hitler bis zuletzt seine religiös-weltanschauliche Identität retten: wenn Deutschland gegen die Hitlersche Propaganda und Infiltrierung immun gewesen und daher „normal“ geblieben wäre, hätte Hitler wohl vollends verrückt werden müssen! Das lässt die Frage aufkommen, welche Bedingungen dazu beitrugen, dass Hitlers Glaube von immer mehr Deutschen nicht nur akzeptiert, sondern als eigener Glaube mitgetragen wurde. (Im folgenden Abschnitt referiere ich einige Informationen und Einschätzungen, die ich dem Buch von Wolfgang Kraus über „Kultur und Macht“, dtv, München, 1975, S. 22, 38, 42, 49, 138 und passim verdanke).

Deutschland, als „Volk der Dichter und Denker“, und ebenso das „kakanische“ Deutsch-Österreich hatten vor dem 1. Weltkrieg einen vergleichsweise hohen Bildungsstand der Gesamtbevölkerung, und zwar wegen der allgemeinen Schulpflicht auch die unteren Schichten einschließend. Lehrer und Professoren, Dichter und andere Künstler waren hoch geachtet, und die Forscher in vielen Wissenschaften sowie Techniker in der Industrie hatten Weltgeltung errungen. Dieses deutschsprachige Volk, in zwei Staaten lebend, geriet in einen Krieg, den ersten Weltkrieg, den seine Machthaber einerseits mit Großmacht-Allüren selbst provoziert hatten, in den sie andererseits auf Grund verquerer Bündnisverpflichtungen auch ohne ihr Zutun quasi hinein geschlittert waren. Nach ersten Erfolgen für die Mittelmächte führte dieser Krieg bald zu einem riesigen Einsatz von Material („Materialschlacht“) und vor allem zu Millionen von Toten, war also schon insofern als auch nationales Unglück größten Ausmaßes einzustufen.

Nach der vernichtenden Niederlage Deutschlands und Österreichs wurde ihnen von den Siegermächten völlig überfordernde und im Effekt geradezu zerstörerische Reparationen auferlegt. Neben dem Verlust von Grenzprovinzen im Westen (Elsass-Lothringen) und Osten (der „Korridor“ zwischen Pommern und Ostpreußen) kam es auch zu Einbußen an Möglichkeiten der Selbstbestimmung für das restliche Staatsgebiet. Das alles führte zu einer totalen Erschütterung des vor dem Krieg bei einzelnen sozialen Schichten übersteigerten Hurrah-Patriotismus, und darüber hinaus des nationalen Selbstbewusstseins überhaupt.

Eine wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg blieb aus, ja es kam stattdessen zu einem noch intensiver werdenden wirtschaftlichen und sozialen Niedergang, zur Massenarbeitslosigkeit bis zu Hunger und Elend weiter Bevölkerungskreise, und noch Jahre später, als der Krieg längst vorbei war, zur galoppierenden Geldentwertung und einer durch die Inflation zusätzlich verstärkten wirtschaftlichen Not. Diese verzweifelte Situation war verbunden mit einer tiefen gesellschaftlichen Krise, verstärkt durch die noch schlecht funktionierende, von linken und rechten Anti-Demokraten erbittert bekämpfte Demokratie. Dies führte insgesamt zu einer geistigen Desorientierung, zum Fragwürdigwerden traditioneller Wertordnungen und zum Gefühl der Perspektivlosigkeit, das sich zu einer allgemeinen Depression vertiefte, und damit eine unheilvolle Voraussetzung dafür schuf, dass so jemand wie Hitler überhaupt die Rolle als vorgeblicher „Retter Deutschlands“ beanspruchen und später tatsächlich einnehmen konnte.

Das soziale Elend einer in Jahren der Not und Arbeitslosigkeit entmutigten Bevölkerung war aber von je her der Nährboden für phantastische Träume und illusionäre Hoffnungen und damit zugleich für das Anfälligwerden für religiöse bzw. politische Heilsangebote. Diese werden in der Regel nicht ad hoc neu entwickelt, sondern liegen in einer Vielzahl von Sinngebungsversuchen immer schon vor. Ein Demagoge braucht dann nur auf solche religiösen oder ideologischen Ansätze zurückzugreifen, sie sich zu eigen zu machen und sie in einer zwar äußerlich neuen Form, in Wirklichkeit aber größtenteils plagiatorisch, zur propagandistischen Durchsetzung seiner eigenen Ansichten zu nutzen. Ihm kommen dabei die Erwartungen der desorientierten Massen entgegen: Bei fehlleitender Orientierung durch derzeit im eigenen Umfeld noch akzeptierte Traditionen vergrößert sich die Bereitschaft, auch von anderswoher importierte „Sinngebungen“ zu übernehmen, vor allem wenn diese mit dem Nimbus der unbestreitbaren Autorität versehen sind, und wenn sie sich als Ersatz für die bislang am höchsten legitimierte Ordnung, nämlich durch Gott selber, anbieten. Wenn es nicht mehr gelingt, den Glauben an den eigenen Gott zu retten, etwa um dadurch das eigene Weiterleben nach dem Tode sicherzustellen, dann muss etwas Anderes oder noch besser ein Anderer an dessen Stelle treten, ein noch höherer Wert oder ein noch wirkmächtigerer Führer.
Unter diesen Bedingungen konnte sogar ein Volk mit hohem Bildungsstand auf die Untergangsszenarien und Heilversprechen seines „Führers“ hereinfallen.

Die „Nazifizierung“ des deutschen Volkes durch Hitler sollte somit nicht als etwas verstanden werden, was die Deutschen als ein völlig Fremdes erfahren, ja erlitten hätten, etwa in einer Rolle als bloßes Objekt einer Propaganda, sogar als Opfer einer gewaltsamen Indoktrinierung, und insofern ohne Mitverantwortung für die Verbrechen, die im Namen und Auftrag Hitlers von deutschen Tätern verübt wurden. Wurden die Deutschen nur mit Lüge und Gewalt verführt, mit sozialen Wohltaten bestochen (Götz Aly. Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer. Frankfurt/M., 2005) und mit Beuteversprechen korrumpiert? Oder kamen sie dieser Verführung entgegen, haben sie diese sogar ersehnt? Bei allem revolutionären Wechsel vom Kaiserreich über den Weimarer Parteienstaat bis zum Dritten Reich“ gab es dennoch Kontinuitäten in der Grundverfassung des deutschen Volkes. Dabei schreibe ich der christlichen Tradition eine besonders gewichtige Rolle zu: Viele Deutsche ließen sich von dem als Erlöser agierenden Diktator vor allem in den ersten „Erfolgsjahren“ so bereitwillig verführen, weil sie schon christlich auf Erlösung hin vorgeprägte, vor allem aber seit vielen Jahrhunderten zum christlichen Judenhass verführte und weiterhin glaubenswillige Menschen waren!

Es kam hinzu, dass Hitlers Glaube nicht nur für Christen Gewohntes fortsetzte, sondern u. a. auch schicht Vernünftiges enthielt oder aus anderen Quellen übernommen hatte. Beides trug dazu bei, dass seine Verrücktheiten für viele Menschen nicht erkennbar waren; und nachdem sich Hitler mit seinem Nationalsozialismus als zunächst innerstaatlich erfolgreich und im zweiten Weltkrieg anfangs international siegreich erwies, jedenfalls bis zum verlorenen Kampf um Stalingrad, konnten seine Verrücktheiten weithin ignoriert werden. Darüber später mehr. Zuvor will ich aber der Frage nachgehen, wie Hitler zu dem wurde, wie alle Welt ihn ich Erinnerung behalten wird, zum Initiator des Zweiten Weltkriegs und zum Massenmörder an den Juden.