2.4.9.4. Verschwörungsängste von seelisch Kranken

Wir sahen, dass seelisch gesunde Menschen real begründete Verschwörungsängste entwickeln können. Entsprechende Ängste können bei dazu disponierten Menschen auch in ihrer je eigenen seelischen Störung, z.B. einer Psychose, begründet sein. Sie können im Verlauf einer Schizophrenie meist in Verbindung mit dem für diese Erkrankung typischen Verfolgungswahn auftreten. In ihren Wahnproduktionen können altehrwürdige Glaubensinhalte auftreten, aber auch die jeweils zeittypischen Verschwörungs-Vorstellungen. Die Verfolgungsängste der paranoid Schizophrenen weichen aber in ihrem Ausmaß und in ihrer Unkorrigierbarkeit stärker vom alltäglichen Glauben und Aberglauben ab, erscheinen den seelisch Normalen und auch den ideologisch oder religiös Indoktrinierten als "verrückt" und "spinnert", und selbst die Angehörigen der Geisteskranken können sich oftmals nur schwer in die wahnhaften Ängste einfühlen. Schon krankheitsbedingt werden viele Schizophrene von der Angst gejagt, von irgendwelchen verschwörerischen Mächten verfolgt zu werden. Früher war es Angst der Geisteskranken vor Hexen und Teufeln, als die sie auch ihre harmlosen Mitmenschen verdächtigen konnten, die dann ohne irgendeine Schuld Gefahr liefen, kirchlich oder staatlich verfolgt zu werden. In einer späteren Epoche fürchteten sich Schizophrene vor den "Machenschaften" der Freimaurer, und wiederum Jahrzehnte später waren es eher die Agenten und "Handlanger" der bolschewistischen Internationale, von denen sie sich verfolgt fühlten. Die Freimaurer sind in den paranoiden Phantasien der Schizophrenen schon ziemlich aus der Mode gekommen, auch von der GPU und dem NKWD ist inzwischen seltener die Rede. Unter den Geheimdiensten fürchten sie eher die CIA oder fühlen sich vom eigenen Verfassungsschutz beobachtet. Der Verfolgungswahn rekurriert also häufig auf zeittypische Verfolger und Verschwörer, wobei nicht der Wahn selbst in seiner Irrealität und Unkorrigierbarkeit, aber doch der Wahninhalt, z.B. der im Wahn gefürchtete bestimmte Verfolger, etwas mit den ohnehin in einer Gesellschaft verbreiteten Ängsten zu tun hat und von daher mitbestimmt ist.

Wenn die Kranken in ihrem Wahn selber politisch aktiv zu werden versuchen, um etwa die zutiefst verdorbene und von Verschwörern bedrohte Welt zu erretten oder zu erlösen, können sie selber Opfer staatlicher oder religiös-inquisitorischer Verfolgungen werden. Es kann sogar eintreten, was der Schizophrene wahnhaft befürchtet hatte: Wenn seine Verrücktheit als gegen einen Herrscher, eine Ideologie oder einen Glauben gerichtet erscheint und als gefährliche Abweichung ernst genommen wird, kann der Schizophrene selber tatsächlich zum Opfer von Verfolgungen werden, insbesondere dann, wenn der Kranke in einem psychotischen Größenwahn auch noch diktatorische Ansprüche äußert. Verrückte Umstürzler, Weltverbesserer und Welterlöser werden leicht zum Opfer von Verfolgung, und wenn es ihnen gelingen sollte, Einfluss auf die Massen zu gewinnen und selber Herrscher zu werden, gibt es allen Anlass für neue Verschwörer, sich gegen sie zusammenzutun. Welterretter oder Erlöser könnten sogar gekreuzigt werden!

Wie kommt es nun dazu, dass Schizophrene solche Verfolgungs- und Verschwörungsängste entwickeln? Das Wahngeschehen hat zum Hintergrund eine besondere Stellung des Kranken zu seiner Umwelt. Er zeigt oft nur wenig Aktivität oder gar Aggressivität nach außen, sondern zieht sich eher in sich zurück. Ihm fehlt oder er verliert leicht die Geborgenheit in Familie und Freundschaft, die Orientierung am Selbstverständlichen, bedingt auch durch den Einbruch traumhaften (S. Freud: primärprozesshaften) Erlebens in die Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit. Er hat dann Schwierigkeiten, die Innenwelt seiner eigenen Träume und Phantasien von der intersubjektiv erfahrbaren Außenwelt abzugrenzen. Ihm ist dann nichts mehr verlässlich, alles könnte einen Hintersinn haben, jedes Geschehen ist von jemandem beabsichtigt und auf den Kranken gezielt. Manche Schizophrene erklären sich diese Erlebensänderung ganz positiv als Folge einer Erwählung, Segnung und Erlösung. Sie können sich von der Liebe und Zuneigung eines Menschen oder des Gottes selber auserwählt fühlen, was genauso irreal sein kann wie die Verfolgung durch böse Menschen und Mächte, aber angenehmer für den Kranken. Es kann aber das wahnhaft umgedeutete "Liebesobjekt" in Verlegenheit oder in Bedrängnis bringen, wenn dieses vom Liebeswahn des Psychotikers keinen Gebrauch machen möchte. Ihm bleibt dann vielleicht nur noch die Flucht, so dass der in die Psychose des Anderen hineingezogene Mitmensch dann realiter zu einem vom Liebeswahn Verfolgten werden kann! Häufiger und typischer ist es aber, dass Psychotiker die Außenwelt als übermächtig erleben, sich ihr hilflos ausgeliefert fühlen. Es spricht einiges dafür, dass die paranoide Verfolgungsangst sekundär ist gegenüber dem Einbruch traumhaften Erlebens und dem Rückzug aus der Wirklichkeit.

Mit diesen Überlegungen wollte ich weder die Verschwörer noch die Verschwörungsängstlichen pauschal als verrückt hinstellen. Wir haben ja schon vorher gesehen, dass es reale übermächtige Verfolger geben kann und auch manchmal genügend realen Anlass, sich mittels einer Verschwörung gegen sie zu wehren. So können auch Verschwörungsängste ihre reale Begründung haben, nicht nur im "finsteren" Mittelalter, sondern auch noch in unserer Zeit.