2.4.8.1.2. Orientierungsprobleme von psychisch Kranken

Neben den Auswirkungen einer von Weltanschauungen und Religionen ausgehenden Desorientierung gibt aber auch den Fall der seelisch Kranken, insbesondere der Schizophrenen, die aus inneren Ursachen, vielleicht auch durch eine körperlich begründbare seelische Erkrankung bedingt, selbst mit förderlichen Orientierungsangeboten nicht zurecht kommen. In solchen Fällen müssen wir in Fragen der Selbst- und Fremdorientierung von ganz anderen Voraussetzungen vorgehen, und das macht eine genügende Kenntnis solcher seelischer Störungen erforderlich. Schon weil im Folgenden ausführlich Bezug auf Schizophrene genommen wird, möchte ich vorausschicken, dass ich kein Psychiater bin. Ich bin aber auch kein psychiatrischer Laie. Bis zu meiner Pensionierung war ich als klinischer Psychologe tätig. Nach meinem Diplom in Psychologie (1953) war ich über viele Jahre in neurologisch-psychiatrischen Kliniken tätig, in Heidelberg, Düsseldorf und in Bremen. In diesen Kliniken war ich in enger Zusammenarbeit mit Psychiatern mit der Psychodiagnostik und Psychotherapie von seelischen Erkrankungen befasst. Dabei hatte ich auch oft mit Patienten zu tun, die nach ihrer Symptomatik als "schizophren" zu diagnostizieren waren.

Auch als Hochschullehrer in Marburg habe ich den Kontakt zur Psychiatrie aufrechterhalten und meine klinisch-psychologischen Erfahrungen in Praxis und Theorie an Studierende der Psychologie vermittelt. Ab und zu treffe ich noch frühere Patienten, die immer noch schizophren sind und weiterhin ambulant oder auch mal stationär behandelt werden, oder aber sich bei fehlender Krankheitseinsicht der Behandlung entziehen. Bei einer solchen Begegnung bleibt es nicht bei einer freundlichen Begrüßung, sondern es kann auch ein Schwätzchen oder sogar ein ernsthaftes und vertrauensvolles Gespräch in Gang kommen. Schizophrene können recht anhänglich sein, und wenn einem das manchmal etwas zu weit geht, kann man dem Patienten ja freundlich zu verstehen geben, dass man anschließend noch etwas anderes zu tun hat. Ich komme übrigens mit Schizophrenen viel besser zurecht als mit schwer depressiven Psychotikern, und ich habe gegenüber schizophrenen Patienten kaum irgendwelche Reserven oder gar Ängste. Ich weiß zu gut, dass jeder Mensch, natürlich auch ich selber, im Nachttraum vorübergehend "ein bisschen schizophren" sein kann, wenn er als Träumer recht großzügig mit Raum und Zeit umgeht und die Realitäten des Tages kaum noch beachtet. Die Fähigkeit zur Realitätsprüfung und Selbstkritik ist im Traum, wie wir alle wissen, oft stark eingeschränkt. Ich bin im Traum schon wie ein segelnder Vogel geflogen (ganz ohne technische Hilfsmittel), bin längst verstorbenen Menschen begegnet und auch schon mal auf einem fremden Stern gelandet. Nach dem Aufwachen bin ich aber wieder ganz auf der Erde, auf dem festen Boden der Tatsachen. Doch in einem Satz gesagt: Ich weiß über Schizophrene und über die Schizophrenien ganz gut Bescheid.

So möchte ich im Folgenden näher erklären, was unter "Schizophrenie" zu verstehen ist. Dieses Wort unterlag über einige Jahrzehnte einem gewissen Tabu, und man wich in Sprachregelungen aus, sprach beispielsweise von der "14" (die Schizophrenie hatte diese Nummer in einem alten Diagnosenkatalog), von der "Psychose" (was sehr ungenau ist, weil es außer der Schizophrenie noch andere, auch eindeutiger organisch bedingte Psychosen gibt), und Psychoanalytiker sprachen von einer "schweren frühen narzisstischen Störung", ohne dass dieses Begriffsungetüm das Gemeinte klarer gemacht hätte. Heute gehen wir lässiger und wegen der besseren Behandlungsmöglichkeiten auch vertrauensvoller damit um; wir können das tabuisierte Wort "schizophren" wieder verwenden, sogar auf eine etwas unernste Weise. Da hatte einer ein T-Shirt an, auf dem vorne der Aufdruck zu lesen war: "Ich bin schizophren!". Und als er sich umdrehte, stand auf der Rückseite: "Ich auch!" Dieser Witz ist aber eher laienhaft, denn "Schizo-Phrenie" läßt sich nicht einfach in "Spaltungs-Irresein" übersetzen. Genau genommen gibt es "die" Schizophrenie als einheitliches Krankheitsbild gar nicht, und man hat daher vom "Formenkreis der Schizophrenien" gesprochen. Dazu gehört auch die schon in Jugendalter aufkommende Hebephrenie, mit einer oft als flach-euphorisch oder läppisch charakterisierten Affektlage, dann die durch motorische Erregtheit bzw. auch durch Haltungsstarre auffallende katatone Schizophrenie, und schließlich die mit Wahnideen und Halluzinationen, vor allem mit Stimmenhören verbundene paranoide Schizophrenie. Von diesen Hauptformen kann dann noch die klassische Paranoia abgehoben werden, in der Wahnideen ohne Begleithalluzinationen in der Symptomatik vorherrschen und schließlich die febrile oder perniziöse Katatonie, die unbehandelt zu schwersten Erregungs- und Erschöpfungszuständen und wohl auch zum Tode führen kann.

Bei aller möglichen Spezifizierung gibt es aber auch einige Gemeinsamkeiten, die den Oberbegriff "Schizophrenie" als vertretbar erscheinen lassen. Bei den Wahnkranken ist besonders häufig der Verfolgungswahn, verbunden mit dem Halluzinieren von Stimmen, die das Verhalten des Patienten kommentieren, ihn kritisieren, beschimpfen, bedrohen, und schließlich sogar Macht über seine eigenen Gedanken gewinnen. Soviel erst einmal zur Schizophrenie. Das alles weiß ich, wohlgemerkt, nicht erst aus Büchern, sondern auch weil ich mit vielen solchen Patienten psychotherapeutisch, die medikamentöse Behandlung unterstützend, gearbeitet habe. Ich könnte auch noch die Begriffe Schub, Remission, Chronifizierung, Defekt etc. erläutern und näher auf die Behandlungsmethoden eingehen, aber ich möchte mich stattdessen auf die Weltanschauungsproblematik der Schizophrenen konzentrieren. Kann man überhaupt von der Weltanschauung der Schizophrenen sprechen?

Im Unterschied zu den seelisch einigermaßen gesunden Menschen, die sich in einem gewissen Konsens über die ihnen gemeinsame reale Welt einigen können, neigen schizophrene Patienten dazu, sich von dieser intersubjektiv erfahrbaren gemeinsamen Welt zu distanzieren oder sogar von ihr zu verabschieden und stattdessen je individuelle Eigenwelten zu entwickeln. Das geht so weit, dass der einzelne Patient meinen kann, dass nur er allein die wahre Weltanschauung vertritt, während er seine Mitpatienten und deren Eigenwelten als wirklich "verrückt" einschätzt. So kann er sich selber auch für den einzig seelisch Gesunden auf der ganzen psychiatrischen Station halten, im Unterschied zu allen Anderen, die Pfleger und Ärzte eingeschlossen.

Aber so verschieden die individuellen Weltanschauungen schizophrener Patienten auch in ihren Inhalten sein können, so haben sie doch gewisse formale Gemeinsamkeiten, denen ich im folgenden nachgehen möchte. Insbesondere beschäftigt mich die Frage, ob manche Schizophrene so "verrückte" Weltanschauungen haben, weil sie eben selber so schizophren sind und überall wahnhaft irreale Zusammenhänge sehen, oder ob die Schizophrenen nur ein besonderes Faible oder eine besondere Empfänglichkeit für solche Weltanschauungen haben, die von sich aus schon so wirklichkeitsfremd sind, dass sie von den meisten Gesunden nicht ganz ernst genommen werden und nur mit bedeutsamen Korrekturen oder Ergänzungen als Orientierung in unserer realen Welt taugen können. Kürzer gefasst setze ich dieses Problem in eine Variante des berühmten "Wer - Wen?" von Mao Tse Tung um, nämlich hier in die Frage: "Wer macht wen verrückt?" Verfälschen die Schizophrenen die eigentlich realitätsadäquaten Weltanschauungen ins Verrückte, oder aber, unter der Annahme der umgekehrten Wirkungs-Richtung: desorientieren manche schon von sich aus realitätsfremden Weltanschauungen zusätzlich die Schizophrenen, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, sich in unserer Welt zurechtzufinden, und die dazu neigen, verrückte Fremdorientierungen viel zu ernst zu nehmen? Um sich von ihnen noch weiter in die Irre führen zu lassen?