2.4.7.2. Übertreibendes Sprechen und Denken

Bei der Beschreibung und Diskussion verschiedener Arten von Extremalisierungen wurden von mir selbst immer wieder einmal Sprechweisen verwendet, die darauf eingerichtet zu sein scheinen, irgendeinen Sachverhalt übertreibend darzustellen. Man könnte sie als eine „Übertreibungssprache“ kennzeichnen, die ohne Schwierigkeiten von einer Einzelsprache in die andere übertragen werden kann. So kennen das Deutsche und auch die uns vertrauten Fremdsprachen die Steigerung von Adjektiva und Adverbien: was schon für sich genommen Größe aufweist, z. B. durch das Adjektiv „groß“ angezeigt, das kann auch noch „größer“ werden und schließlich „am größten“ sein. Auch Kleines kann in seiner Kleinheit gesteigert, also immer weiter faktisch und auch sprachlich verkleinert werden: „klein, kleiner, am kleinsten“. Die slawischen Sprachen haben darüber hinaus eine Fülle auch von substantivischen Verkleinerungsformen für alles Kindliche und Niedliche entwickelt. Und in meinem lateinischen Wörterbuch fand ich die Formen „minutus, minutulus, minutulissimus“, die letztere auch geeignet als Anrede für etwas wirklich sehr Kleines, etwa für eine gerade befruchtete menschliche Eizelle: „Minutulissima!“ (= „Ew. Allerwinzigkeit“), falls man eine Eizelle überhaupt als Person anreden kann.

Die Eigentümlichkeit von Sprachen, bei Adjektiven zwischen einer Normalform, einem Komparativ und einem Superlativ unterscheiden und im Deutschen sogar noch einen von mir so bezeichneten „Totalitiv“ (z. B. „der Allergrößte“) anschließen zu können, kann im lebendigen Diskurs genutzt werden, um damit soziale Ranghöhe, Besonderheit oder auch Dringlichkeit auszudrücken. Eine bestimmte Aufgabe soll dann nicht einfach nur erledigt werden, sondern das soll auch sehr schnell geschehen (russ.: „dawai, dawai!“), sogar noch schneller (und dabei kann man schon aus der Puste oder ins Schwitzen kommen), nein, es muss „schnellstmöglich“ oder gar „schnellstmöglichst“ geschehen, was in der Art der Steigerung dem „huldvollsten“ oder sogar „huldstvollsten“ Kaiser und König der wilhelminischen Zeit entspricht. Menschen waren immer erfindungsreich im Ausdenken verschiedenartiger Ausdrücke für Intensivierung und Steigerung, neben der extremen Vergrößerung („riesig“, „total“, „absolut“ etc.) auch die extreme Minimalisierung über das verschwindend Kleine bis schließlich zum (fast) Nichts, und darüber hinaus zum „überhaupt nichts“, „rein gar nichts“, mathematisch formuliert also sowohl bis zum unendlich kleinen Zahlenwert als auch in einem entschiedenen Schritt von der Eins bis zur Null, und etwas mühsamer, in der anderen Richtung, bis zum Unendlichen.

Die Minimierung des Vielen zum Einen kann auch mit anderen sprachlichen Mitteln erreicht werden, nämlich mit Hilfe der Abstraktion, der Bildung von Oberbegriffen (im PC mit der Benennung einer Datei oder eines Ordners). Schon der Titel eines Buches, die Überschrift eines Abschnitts oder das Thema eines Vortrags haben in der Verkürzung auf eine Zeile oder ein Wort etwas Übertreibendes, so als wäre der vom Autor herausgegriffene Aspekt das einzig Wichtige an der ganzen Sache. Schon Oberbegriffe übertreiben, denn sie subsumieren unter sich verschiedene Spezifika, die doch manchmal nur entfernt einander ähnlich, keinesfalls aber einander gleich sind. So wird auch mit Recht von den „terribles simplificateurs“ gesprochen oder auf gut englisch dem Wissenschaftler das 11. Gebot vorgehalten: „Don’t generalize!“, was sich natürlich nur gegen vorschnelle oder zu weit gehende Verallgemeinerungen richtet. Insbesondere Philosophen sind groß in solchen Verallgemeinerungen. Ich vielleicht auch?