2.3.9.4. Gebote zur Vermehrung und Erhaltung menschlichen Lebens und ihre Ausnahmen.

In den folgenden Überlegungen befasse ich mich mit der Frage nach der Vermehrung und Erhaltung menschlichen Lebens, und zwar zunächst mit Sichtweisen aus dem Bereich christlichen Glaubens, vor allem an den Traditionen der katholischen Kirche orientiert. Schon die Mutterreligion aller Christen, der katholischen und danach auch der evangelischen Christen, nämlich der jüdische Glaube des alten Testaments, hat seine Hochschätzung des Lebens und der Vermehrung des eigenen Samens betont. Allerdings war dem Gott Jahwe und seinem auserwählten Volk Israel das Leben der nicht an Jahwe glaubenden Feinde nicht per se gleichermaßen erhaltenswert. Denn das 5. Gebot, in der üblichen Fassung: "Du sollst nicht töten", verbot ursprünglich nur den Mord an Angehörigen des eigenen Stammes und der eigenen Religion, während Stammesfremde und vor allem "Ungläubige" als Volks- und Gottesfeinde sehr wohl getötet werden durften, sogar getötet werden sollten. Der Herr der Heerscharen bot dazu sogar seine Mithilfe an und bewies sie auch im Kampf gegen die Midianiter, Hethiter, Girgaschiter und Amoriter, die Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Gott war es, der seinem auserwählten Volk Israel alle diese Völker selbst aus dem Weg räumte, sie ihm auslieferte, damit diese Völker "der Vernichtung geweiht wurden", wie es im 5. Buch Mose, dem Deuteronomium im Vers 7, 1-5 zu lesen ist, und das hieß damals, dass diese Völker ohne Rest, einschließlich der Kinder und Greise, nur manchmal mit Ausnahme von einigen jungen attraktiven Frauen, ausgerottet werden sollten. Aber für die Auserwählten selber galt offenbar weiterhin: "Seid fruchtbar und mehret euch", also das klar verständliche und auch vergleichsweise leicht realisierbare göttliche Gebot aus dem 1. Buch Mose, dem Buch Genesis.

Die katholische Kirche hat dieses Vermehrungsgebot, jedenfalls soweit es ihre eigenen Gläubigen betraf, immer sehr ernst genommen: das ist schon daran erkennbar, dass der vielleicht einzige kirchenrechtlich akzeptable Grund zur Annullierung einer Ehe darin bestand, dass diese nicht sexuell vollzogen worden war und damit auch noch nicht mit Kindern gesegnet. In dieser Hinsicht ist das katholische Eherecht extrem biologistisch. Die Kirche achtet in ihrer Glaubenslehre auch streng darauf, dass möglichst kein männlicher Same in der Selbstbefleckung verschleudert wird, dass jeder Sexualverkehr prinzipiell zur Empfängnis führen kann und dass das einmal befruchtete Ei auf jeden Fall bis zur Geburt eines Kindes ausgetragen wird. Dieser "Biologismus" ist natürlich, wie wir gesehen haben, keineswegs in der modernen wissenschaftlichen Biologie, also biologisch begründet, sondern eher machtpolitisch motiviert. Aber er führt eben dazu, dass die katholische Kirche sogar schon die mechanisch-chemische Empfängnisverhütung mittels Kondom oder Pille verbietet. Sie fordert von der katholischen Frau, jedem im Sexualverkehr aufgenommen Spermium die Chance zu lassen, die in ihr heranreifende Eizelle zu befruchten bzw. den Sexualverkehr, auch mit dem angetrauten Ehemann, nur zuzulassen, wenn sie auch bereit ist, das dabei gezeugte Kind auszutragen, selbst wenn sie schon mehrere Kinder hat. Anscheinend ist nach katholischer Lehre jedes Leben, zumindest das von katholischen Laien, vermehrungswert oder sogar vermehrungspflichtig: der Samen muss befruchten können und die befruchtete Eizelle muss ausgetragen werden.

Interessanterweise gilt dieses für alle Gläubigen absolute Gebot, sich zu mehren, nicht für katholische Priester. Das ist eine wirklich bemerkenswerte Ausnahme, die erste und ernste Zweifel aufkommen läßt, ob für Katholiken das menschliche Leben und seine Erhaltung und Vermehrung wirklich ein höchster oder auch nur ein sehr hoher Wert ist. Der Zölibat (von lat. coelibatus, mask.) verbietet den Priestern und Ordensgeistlichen sogar, sich auf biologische Weise zu mehren, und insofern ist bei ihnen, bis hinauf zum Papst, das Sich-Vermehren kein hoher Wert, sondern sogar das Gegenteil davon. Die Ehelosigkeit der Priester und ihr Zwangsverzicht auf eigene Kinder, jedenfalls auf nicht nur selbst gezeugte, sondern auch auf in der eigenen Familie selbst aufgezogene Kinder, ist wohl auch der Grund dafür, dass die katholische Glaubenslehre immer noch so sexualfeindlich und familienfremd geblieben ist. Und von moderner Biologie haben ihre Befürworter, wie wir schon gesehen haben, keine blasse Ahnung!

So liegt es nahe, noch weiter nachzufragen, ob für die katholische Kirche das Leben und seine Erhaltung und Vermehrung wirklich ein so hoher Wert ist. Muss nach ihrer Sicht jeder Tod tatsächlich so lange wie möglich verhindert oder wenigstens aufgeschoben werden? Dagegen spricht, dass christliche Märtyrer seit jeher vorgezogen haben, gefoltert oder sogar getötet zu werden, statt ihren Glauben zu leugnen oder ihn gar ausdrücklich zu widerrufen. Sie starben lieber, als einen Irrglauben anzunehmen. Für sie war der christliche Glaube ein deutlich höherer Wert, als das eigene irdische Weiterleben. Und später hat die Kirche bewaffnete und vom Startpunkt bis zum Zielort Jerusalem sehr kriegerische Kreuzzüge zugelassen und initiiert, sogar Kinderkreuzzüge. Auch das Verbrennen andersgläubiger, häretischer oder vom Teufel besessener Menschen auf Scheiterhaufen ist alles andere als lebenserhaltend. Die Kirchen haben auch in aller Regel unterstützt, und zwar noch im 2. Weltkrieg und zuletzt in den Kriegen im zerbrechenden Jugoslawien, dass es für den Soldaten ehrenvoll ist, fürs Vaterland und den eigenen Glauben zu sterben. Gehorsam gegenüber Krone und Altar war offenbar ein höherer Wert, als das eigene Leben der jungen Leute. Noch der ansonsten aufklärerisch gesinnte Friedrich der Große, König von Preußen, hat dies als eine Selbstverständlichkeit angesehen, wenn er seinen murrenden Soldaten zurief: "Leute, wollt ihr ewig leben?". Nur in Klammern gesetzt möchte ich anmerken, dass es biologisch und speziell darwinistisch gesehen ein wirkliches Übel ist, wenn der Heldentod junger Männer zur Folge hat, dass sie dadurch ihren Samen nicht weiter verbreiten können, bzw. dass ihre Witwen und Waisen ihren Schutz und ihre Unterstützung entbehren müssen. Wenn in der katholischen Kirche und ihrer päpstlich autorisierten Glaubenslehre dennoch, trotz aller genannten "Ausnahmen", das Leben als heilig und unantastbar gilt, dann kann das nach alledem nur als eine ziemlich krasse Scheinheiligkeit der hier wortführenden Junggesellen bezeichnet werden.

Aber es könnte ja sein, dass außerhalb der Kirchen das Leben dennoch ein durchgehend hoher oder sogar höchster Wert ist, und zwar nicht nur in salbungsvollen Reden, sondern in tatkräftiger Unterstützung seiner Erhaltung und Vermehrung bei den eigenen Leuten und bei den Anderen, den Feinden und Ungläubigen, nämlich ungeachtet des Alters, des Geschlechts, der Rasse, der Religion, der Rechtschaffenheit oder Sündigkeit, der Krankheit oder Gesundheit der Menschen! Gehen wir dem mal im Einzelnen nach. Am wenigsten umstritten ist die Hochschätzung des Lebens, wenn es um das eigene Leben geht, wenigstens solange man mit ihm zufrieden ist und die damit verbundenen Mängel und Nöte ertragen kann. Menschen wie wir hier wären gar nicht so lange, zum Teil über 70 Jahre, am Leben geblieben, wenn wir uns nicht bis jetzt intensiv und beständig um die Erhaltung unseres Lebens gekümmert hätten. Wenn für uns Anderes wichtiger gewesen wäre als unser eigenes Leben, dann wären wir vielleicht schon tot!

Aber bleibt denn mein Leben mein höchster Wert bis ins Unendliche? Ist das Leben wirklich wert, weiter gelebt zu werden, wenn schon ein Organ nach dem anderen beginnt, seinen Dienst aufzugeben, ja dem Tod des ganzen Organismus vorauszusterben? Irgendwann ist das Leben subjektiv nicht mehr viel wert, oder vielmehr: es ist dann wert, nun auch ein gutes Ende zu finden, es ist sterbens- oder beendigungswert. Dass "gutes Sterben" auf griechisch "Euthanasie" heißt, macht es damit noch nicht automatisch zu einer faschistischen Menschenverachtung und Nazi-Vernichtungspraxis. Auch ein Antifaschist könnte den Wunsch haben, nicht ewig lange zu leiden und dennoch medizinisch am Sterben gehindert zu werden; er könnte sogar den Wunsch haben, dass ihm jemand das Leiden verkürzt und ihm einen guten Tod verschafft, und möglichst bis zum Schluss bei ihm bleibt und ihm die letzten Stunden und Minuten erleichtert. Also: mein eigenes Immer-noch-so-weiterleben ist kein höchster Wert.