2.3.9. Über Gentechnik und Menschenwürde

Inhaltsverzeichnis

2.3.9.1. Problemstellung: "Dürfen wir alles, was wir können?"
2.3.9.2. Methodisches Vorgehen
2.3.9.3. Ist schon die befruchtete menschliche Eizelle ein Mensch mit Würde?
2.3.9.4. Gebote zur Vermehrung und Erhaltung menschlichen Lebens und ihre Ausnahmen.
2.3.9.5. Probleme der Güterabwägung
2.3.9.6. Wer ist "ein Mörder"?
2.3.9.7. Über Herkunft und Bedeutung von "Würde"-Wörtern
2.3.9.8. Juristisches zur Menschenwürde
2.3.9.9. Die biologisch begründete Nähe des Lebens zum Tode
2.3.9.10. Gesamteinschätzung und Konsequenzen

2.3.9.1. Problemstellung: "Dürfen wir alles, was wir können?"

Die an uns gestellte Frage lautet: "Dürfen wir alles, was wir können?" Das ist sehr allgemein gefragt, und so könnte man gleichermaßen allgemein mit "Nein!" antworten: "Natürlich dürfen wir nicht alles, was wir können!" Ich will deshalb die Frage präzisieren und setze zunächst einmal das Verb "glauben" ein, und frage nun: "Darf man alles glauben, was man glauben kann?" Da kann ich erst einmal mit "ja" antworten, weil uns unser Grundgesetz Glaubensfreiheit zusichert, nämlich die Freiheit, das zu glauben, was die meisten glauben, aber auch die Freiheit, etwas anderes zu glauben, und schließlich auch die Freiheit, nicht zu glauben, zumal manches von dem, das zu glauben uns zugemutet wird, recht unglaubhaft oder ggf. sogar erwiesenermaßen falsch ist. Aber wer es glauben kann, der soll es auch glauben dürfen. Ich selber glaube nicht alles, was mir gesagt und als Wahrheit angeboten wird. Manches möchte ich lieber genauer wissen, bevor ich es glaube. So halten es die Skeptiker: sie sind dafür, dass man das schwer zu Glaubende besser erst überprüft, und zwar am besten mit den Methoden der verschiedenen Wissenschaften. Aber ich halte die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit für ein sehr hohes Gut, mit gutem Grund in unserer Verfassung verankert, gleichermaßen auch die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses.

Wir dürfen natürlich auch alles meinen, denken und wissen, was wir wollen, im allgemeinen dürfen wir es auch sagen, öffentlich äußern und in Medien verbreiten, was wiederum als Pressefreiheit grundgesetzlich zugesichert ist. Da heißt es: "Eine Zensur findet nicht statt". Ich ergänze: hoffentlich nicht! Die freie Meinungsäußerung hat nur gewisse Grenzen darin, dass man mit seinem Reden und Schreiben andere Menschen nicht vorsätzlich beleidigen soll (§ 185 ff.). Man darf auch nicht den Inhalt eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses (gemeint sind wohl Personen wie Gott etc.) in einer Weise beschimpfen, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (§ 166), und man darf nicht absichtlich und in grober Weise eine gottesdienstliche Handlung stören oder beschimpfenden Unfug an einer Kirche verüben oder eine Bestattungsfeier stören. Aber sachlich kritisieren darf man eigentlich alles, sogar den einen oder anderen Artikel des Grundgesetzes, sogar das eine oder andere aus den Zehn Geboten, sogar Gott.

Nach diesen Präzisierungen will ich in die Eingangsfrage noch ein anderes Verb einsetzen, und so frage ich: Darf man alles erforschen, was man erforschen kann? Natürlich ja, weil bei uns in Deutschland die Freiheit der Forschung grundgesetzlich garantiert ist, selbst wenn manche Forschung Zweifel aufkommen läßt, ob sie wirklich sinnvoll ist. Aber ob mehr oder weniger sinnvoll, sie ist in jedem Falle prinzipiell erlaubt. Im Grundgesetz heißt es im Art. 5, Abs. 3: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Gilt dieser Satz so uneingeschränkt, wie er formuliert ist? Natürlich nicht. Denn in Einzelfällen kann bestimmte Forschung begründete Zweifel aufkommen lassen, ob einzelne der von ihr angewendeten Methoden wirklich erlaubt sind. Diese Problematik ist Hintergrund einer Formulierung im Grundgesetz (Art. 5, Abs. 2), die sich zunächst auf die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit bezieht: dass nämlich diese Rechte ihre Schranken finden in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Das gilt entsprechend auch für die Religionsfreiheit und für die Freiheit der Forschung, die gleichermaßen andere hochrangige Gesetze respektieren müssen. Aber es ist eher selten, dass der Wissenschaftler in seiner Forschung mit dem Strafgesetzbuch in Kollision gerät.

Offenbar bezieht sich die uns gestellte Frage nach der Erlaubtheit dessen, was einer kann, nicht so sehr auf die Grundlagenforschung, als vielmehr auf die Anwendung von Forschung, also auf Technik. So ist es sinnvoll zu fragen: Dürfen wir die Erkenntnisse einer Wissenschaft beliebig in Techniken umsetzen? Darf man wissenschaftliche Forschungsergebnisse etwa nutzen, um Menschen besser umbringen zu können, beispielsweise mit Bakterien und Viren, mit chemischen Giften, mir überschnellen Projektilen, ultrascharfen Schneidwerkzeugen, mit Explosivstoffen, mit ganzen Flugzeugen, schließlich gar mit Atombomben? Darf man Tiere unter Anwendung genetischer Methoden so züchten, dass sie nicht mehr natürlich gebären können, sondern nur noch mit Kaiserschnitt? Darf man, zur wissenschaftlich definierten Optimierung des Ertrags pro Kubikmeter Stalleinrichtung, Legehennen in so engen Käfigen halten, dass sie sich darin nicht mehr bewegen können? Offenbar nicht. Die wissenschaftliche Begründung einer Tötungstechnik oder einer Tierhaltungs-Technik ändert nichts daran, dass das Morden von Menschen und das Quälen von Tieren verboten ist.

Das führt mich zu einer letzten Verallgemeinerung der eingangs gestellten Frage. Ich setze das Wort "tun" ein: Dürfen wir alles tun, was wir tun können? Natürlich nicht. Wir könnten zwar Menschen ermorden oder Tiere quälen, vielleicht kann es nicht jeder, aber manche können es, und viele können dazu gebracht werden, es zu tun. Aber wir dürfen es nicht, ebenso wie wir nicht stehlen, Steuer hinterziehen oder bei Rot über die Kreuzung fahren dürfen, selbst wenn wir das eine oder andere davon im gegebenen Fall ganz gut könnten. Aber es zu tun verbietet uns schließlich und endlich das Strafgesetzbuch, und dessen Unkenntnis oder Nichtbeachtung schützt bekanntlich nicht vor Strafe. Zwar gilt weiterhin: die Forschung ist frei, aber dies ist begrenzt durch die Vorschriften der ansonsten geltenden Gesetze. Wir dürfen in der Forschung praktisch alles tun, was uns das Strafgesetzbuch und dahinter das Grundgesetz nicht verbietet, und das auch in der Genforschung. Besonders aber bei der Gentechnik müssen wir auf die gesetzlichen Grenzen achten und ggf. neue Grenzen einführen, insbesondere wenn Menschenrechte von dieser Technik beeinträchtigt werden könnten.

In der Frage, ob wir alles dürfen, was wir können, und in den davon abgeleiteten weiteren Fragen geht es um Ethik, um die Normorientierung menschlichen Handelns, geleitet zunächst von Selbstverständlichkeiten, dann weiterhin durch eine herrschende Moral und schließlich durch Festlegungen unserer Gesetze, an denen wir uns zu orientieren haben. Aber bevor man an ein Problem solche Aspekte anlegt und ein ethisches, moralisches oder juristisches Urteil abgibt, bevor man also ein Handeln nach solchen Maßstäben beurteilt, sollte man nicht nur dieses Handeln, sondern auch die jeweils gegebene äußere und innere Situation, die dieses Handeln anregt oder bestimmt, genügend genau kennen. Man muss erst einmal wissen, was Sache ist, bevor man ethisch urteilt, man muss den jeweiligen Sachverhalt zu klären versuchen.

Da nun Forschungs- und Meinungsfreiheit zu den von unserer Verfassung zugesicherten Grundrechten gehören, will ich mich im Folgenden ganz frei über Forschungsergebnisse äußern und meine Meinung dazu sagen, und zwar auch dann, wenn sie dem Glauben oder der Weltanschauung anderer Menschen nicht ganz entsprechen sollte. Denn es gilt auch die Meinungsfreiheit des Nichtglaubenden, selbst wenn dies im Grundgesetz nicht so ausdrücklich geschrieben steht. Sie gilt insbesondere dann, wenn eine Meinung mit anerkannten Forschungsergebnissen begründet wird.