2.3.6.5. Die Darwinsche Evolutionstheorie

In dieser kurzen Darstellung der Geschichte des Rassismus habe ich den Namen Charles Darwin mit Bedacht nicht erwähnt. Im Unterschied zu den Ideologen Spencer, Taine, Gobineau und Chamberlain war Darwin ein solider Naturwissenschaftler, der die Biologie durch bahnbrechende Erkenntnisse insbesondere über die Bildung der Arten und über die Gesamtevolution des Lebendigen sehr bereicherte. Charles Robert Darwin (1809 - 1882) ist der Begründer der modernen Evolutionstheorie. Seine spezielleren Arbeiten betreffen die Botanik und im Bereich der Zoologie die Insekten, Regenwürmer und Seepocken, womit er zur Beschreibung einer Fülle bis dahin unbekannter Arten beitrug. Diese an sich schon bedeutenden Arbeiten werden aber durch die Begründung und Entwicklung der modernen Evolutionstheorie in den Schatten gestellt. Eine erste Fassung seiner Evolutionstheorie trug Darwin erst 20 Jahre nach ihrer Konzeption vor. In der Biologie wirkten Darwins Ideen umwälzend und regten eine Fülle von einschlägigen Untersuchungen an. Darwins spätere Werke bilden fast durchgängig eine weitere Stützung der Evolutionslehre. Selbst wenn diese hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und der Dauer der Abläufe nicht mehr unangefochten ist, steht sie heute wie damals im Mittelpunkt der Biologie.

Ausgehend von der Annahme, dass alle Lebewesen von einem gemeinsamen Urahn abstammen, befasst sich die Evolutionstheorie mit den Ursachen der Entstehung und Umwandlung der Arten. Darwins Erklärungsansatz ging, in heutiger Formulierung, von Folgendem aus: Die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen eines Lebensraumes, um welche die Individuen einer Population miteinander konkurrieren, und die Überproduktion an Nachkommen führen dazu, dass eine "natürliche Auslese" die besser angepassten Individuen bei der Ernährung und besonders bei der Fortpflanzung begünstigt, so dass diese mit ihren Genen in der nächsten Generation mehr als andere Individuen zum gesamten Genpool der Population beitragen. Die besser angepassten und vererbbaren Eigenschaftsvarianten werden sich über die Generationenfolge in einer Teilpopulation stärker verbreiten und dort die weniger adaptierten Varianten allmählich verdrängen (genetische Drift). Auf diese Weise kann die natürliche Auslese zum genetischen Wandel einer Population und bei andauernder räumlicher bzw. fortpflanzungstechnischer Isolation (auch durch Katastrophen, geographische Barrieren, Besiedlung von Inseln oder isolierten großen Seen) darüber hinaus zur Abspaltung neuer Rassen und Arten führen. Es kommt dabei nicht, wie die Formeln "Kampf ums Dasein " und "survival of the fittest" nahe zu legen scheinen, auf das Überleben von besonders aggressiven Individuen, etwa von besonders gefräßigen Raubtieren an, sondern bloß auf den relativen Fortpflanzungsvorteil bestimmter, z.T. nur minimaler erblicher Variationen innerhalb der Art. Selbst in einer Wüste, wo ansonsten keine konkurrierenden Arten leben, kann sich eine besonders genügsame Art durch Mutation und Selektion weiterentwickeln, ganz ohne aggressive Überwältigung anderer Artgenossen und ohne totale Vernichtung der Pflanzen oder Tiere, von denen sie sich ernährt. Die darwinsche Evolutionstheorie hat sich, ergänzt durch die Beiträge von Gregor Mendel und anderen Forschern, in der Biologie durchgesetzt, besonders in ihrer modernen Form, die sich durch die Einbeziehung neuerer biologischer Erkenntnisse vor allem der Genetik und der Populationsbiologie, aber auch der Taxonomie, Biogeographie, Ökologie und Paläontologie erheblich weiterentwickelt hat und inzwischen ein weitgehend akzeptierter Teilbereich der Biologie ist..

Bevor ich die Unterschiede zwischen Art und Rasse diskutiere, möchte ich, z.T. weiterhin auf den Brockhaus gestützt, ihre wichtigsten biologischen, insbesondere genetischen Grundvoraussetzungen kurz darlegen. Die auf den Chromosomen der Zellkerne aufgereihten Gene sind molekular definierte Einheiten, welche die Vererbung von Merkmalen von einer Generation auf die nächste determinieren. Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus wird als Genom bezeichnet. Ein einzelnes Gen bestimmt (ggf. in Zusammenarbeit mit anderen Genen) als Erbanlage oder Erbfaktor - neben Umwelteinflüssen und im Zusammenwirken mit diesen - die Ausbildung eines bestimmten Merkmals oder einer Merkmalskombination im Erscheinungsbild (im Phänotyp). Es wird als Gen erkennbar durch das Vorkommen alternativer Formen für dieses Merkmal, die wiederum von Allelen, das sind durch Mutation veränderte Gene, determiniert werden. Allele liegen auf identischen Genorten auf homologen Chromosomen und können eine unterschiedliche oder alternative Ausprägung des zugehörigen Merkmals bewirken. Diese kann sich im weiteren Erbgang dominant oder rezessiv manifestieren.

Bei Lebewesen mit geschlechtlicher Fortpflanzung kommt es bei der Befruchtung einer Eizelle durch eine Samenzelle zu einer Neukombination der ggf. unterschiedlichen Erbanlagen der beiden Keimzellen, was einen wichtigen Evolutionsfaktor darstellt. Da die Verteilung der Allele auf die Keimzellen und deren Verbindung zur befruchteten Eizelle zufällig erfolgt, führt dies zu wiederum zufälligen Fluktuationen in der relativen Häufigkeit verschiedener Allele innerhalb einer Population. An den phänotypischen Effekten solcher zufallsgenerierten Verschiedenheiten kann dann die Selektion ansetzen, wenn nämlich Individuen mit bestimmten Genkonfigurationen die Umweltmöglichkeiten besser ausnutzen und ihre Erbanlagen erfolgreicher an Nachkommen weitergeben können. Sind die Allele für ein Merkmal völlig gleich, spricht man von Reinerbigkeit, sind sie unterschiedlich, dann von Mischerbigkeit in Bezug auf dieses Merkmal. Die Anzahl der unterschiedlichen Allele eines Gens kann sehr hoch sein (multiple Allelie), wobei jedoch die im Erscheinungsbild (Phänotypus) der Organismen einer Population beobachtbaren Unterschiede von weit geringerer Zahl sind.

In diesem Kontext versteht man unter Art oder Spezies eine Population von Individuen, die sich unter natürlichen Bedingungen unbegrenzt miteinander sexuell fortpflanzen können und somit Anteil an und Zugang zu dem für diese Art gemeinsamen Genpool haben. Der Genpool, die Gesamtheit der verschiedenen Allele und damit der genetischen Varianten innerhalb einer artgleichen Population, ist die entscheidende Grundlage für die genetische Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen, sowie darüber hinaus für die Rassen- und Artbildung. Als genetische Flexibilität bezeichnet man die Fähigkeit einer Art oder Teilpopulation, auf veränderte Umweltbedingungen mit der Vermehrung der darauf besser angepassten Phänotypen zu reagieren, wobei diese Anpassung zunächst auf Dauer angelegt ist, also genetisch fundiert ist und weiter vererbt wird.

Aufgrund genbedingter physiologischer und morphologischer Begrenzungen sind Artenkreuzungen, also Kreuzungen zwischen Individuen nahverwandter Arten, unter natürlichen Bedingungen die Ausnahme. Sie kommen nur vor in Überlappungszonen der jeweiligen Verbreitungsgebiete, z.B. von Wölfen oder Hunden (Canis lupus) einerseits und Kojoten (Canis latrans) in Nordamerika andererseits. Die so zustande gekommenen Arten-Bastarde sind häufig ihrerseits unfruchtbar (z. B. bei Kreuzungen zwischen Esel und Pferd: Maultier und Maulesel), aber das gilt wohl nicht oder nicht so durchgehend für Kreuzungen zwischen Goldschakal, Wolf, Kojote und Rotwolf (Eberhard Trumler: Meine wilden Freunde. Die Wildhundarten der Welt. Piper, München, 1981, S. 113). Man unterscheidet monotypische Arten, die keine verschiedenen Rassen umfassen, von polytypischen Arten, bei denen mehrere verschiedene Rassen oder Morphen aufweisbar sind. Es gibt auch geographische Mannigfaltigkeitszentren, also Gebiete, in denen aus ökologischen Gründen verschiedene Arten höhere Zahlen von Allelen ansammeln und dann in größerer rassischer Formenvielfalt auftreten als andernorts.

In den letzten Feststellungen sind wir schon vom Begriff der Art zu dem der Rasse fortgeschritten, und damit zu dem sachlichen Hintergrund der Überlegungen über "Rassismus". Als Rasse oder Unterart (Subspezies) versteht man in der heutigen zoologischen Systematik eine innerhalb einer Art abgrenzbare Subpopulation, die sich in Hinsicht auf mehrere Erbanlagen von anderen Subpopulationen der selben Art unterscheidet. So unterscheiden sich innerhalb der selben Art die Angehörigen der einen Rasse durch die ihnen gemeinsamen Erbanlagen von Angehörigen einer anderen Rasse dieser Art, die wiederum einige andere Erbanlagen gemeinsam haben. Da in diesem Falle beide (bzw. alle) Rassen ein und derselben Art angehören, sind ihre Individuen unbeschränkt miteinander kreuzbar und ihre Bastarde weiterhin fruchtbar und vermehrungsfähig. So ist "Rasse" heute ein naturwissenschaftlicher, insbesondere zoologischer Ordnungsbegriff zur Bezeichnung von Individuen innerhalb einer Art, die in mehreren genetisch fundierten Merkmalen so übereinstimmen, dass sie sich insgesamt als Typus von anderen Rassen dieser Art abheben lassen.

Je nach dem Zustandekommen der Bildung von Rassen oder Unterarten kann man zwei Formen unterscheiden:

  1. Als geographische Rassen bezeichnet man Populationen, die in voneinander getrennten und ggf. auch ökologisch verschiedenartigen Arealen leben. Durch geographische Barrieren wie Gebirge, Meere und Meeresarme, durch Wüsten und auch durch Eisschilde kann der Genfluss innerhalb einer Art stark eingeschränkt sein, wodurch schon ganz zufällig lokale Merkmalsunterschiede auftreten können, die dann durch eine bessere Anpassung an lokale Bedingungen einen Selektionsvorteil bieten können. Aber auch unabhängig von Anpassungsvorteilen können durch zufällige Mutationen neue Merkmale, z.B. unterschiedliche Färbungen, auftreten und sich im begrenzten Bereich ausbreiten. Vor allem geographische Rassen können in größeren Zeiträumen bei weiter bestehender Isolierung zur Bildung von neuen (anderen) Arten führen. Die Artbildung ist abgeschlossen, wenn die Angehörigen der einen Art mit denen einer nächstverwandten Art nicht mehr kreuzbar sind und keine Nachkommen mehr mit diesen haben können.

  2. Als ökologische Rassen oder Ökotypen (im Unterschied zu bloß phänotypischen Modifikationen) bezeichnet man genetisch homogenere Subpopulationen ein und derselben Art, die im gemeinsamen geographischen Gebiet, dort aber unter verschiedenen Standortbedingungen leben, so dass man von einer zumindest "mikrogeographischen" Trennung sprechen könnte. In diesen Fällen haben sich in einer genetischen Anpassung an die besonderen Bedingungen einer ökologischen Nische innerhalb des gemeinsamen Verbreitungsgebietes neue und genetisch stabile Unterschiede der Erscheinungsweise ergeben.

Innerhalb einer Art können beide Modi der Rassenbildung vorkommen. Die Abgrenzung solcher Rassen voneinander ist nur mit sorgfältiger statistisch begründeter Methodik abzusichern. So unterscheidet Eberhard Trumler (Meine wilden Freunde. Die Wildhundarten der Welt) auf Grund der ihm zugänglichen Literatur 8 Unterarten oder Rassen des Wolfs in ganz Eurasien (S. 124), dagegen 23 Unterarten des Wolfs in Nordamerika (S. 156), und er kommentiert den letzteren Wert mit der Bemerkung, eine derart weitgehende Aufgliederung dürfte stark übertrieben sein. Auch in Nordamerika könnte es wohl eher an die 10 Rassen des Wolfs geben.

Rassen sind ein Ergebnis biologischer Anpassungen an Klimate, an unterschiedliche Nahrungsangebote, an Gegebenheiten der materiellen Umgebung und insgesamt der Überlebensmöglichkeiten. Dies gilt zunächst für die auf solche Gegebenheiten bezogene Gesamtfitness. Davon relativ unabhängig kann es in der Evolution zu zwar vererbbaren Veränderungen der äußeren Erscheinung kommen, deren Überlebenswert sich aber nur daraus ergibt, dass sie mit etwas, was das Überleben verbessert, in ihrer Genese korreliert sind, und noch darüber hinaus spielt bei der Kombination von Merkmalen auch der blinde Zufall mit. So sind rassische Unterschiede auch das Ergebnis des Dauerwürfelns der Evolution, beginnend schon mit den Zufälligkeiten der Mutationen, der vererbbaren Veränderungen der Gene, und fortgesetzt mit den Zufälligkeiten der Selektion.

Zur biologischen Nützlichkeit von Rassenmerkmalen ist festzustellen: für alle Tierarten und -rassen, natürlich auch für Menschen, gelten einige zumindest statistisch belegbare Gesetzmäßigkeiten, wie z.B. die Regel, dass in der Arktis, verglichen mit den Tropen, eher große, gedrungene, kurzbeinige, fette oder durch dichte Pelze geschützte Tiere überleben können, bedingt durch das geometrisch begründete Gesetz, dass unter allen unterschiedlich geformten Körpern die Kugel die relativ geringste Oberfläche besitzt, die damit aber auch, wie wiederum die Physik lehrt, am wenigsten Wärme abstrahlt. Gegen Kälte isolieren Fettschichten und Luftschichten, diese eingeschlossen in Federn oder dichten Pelzen, viel besser als dünne nackte Haut. Der Nacktmull hätte in der Tundra, abgesehen von der Seltenheit von Regenwürmern und anderen Bodenbewohnern, keine echte Überlebenschance. Umgekehrt ist Schlankheit, Grazilität, geringe Behaarung, Langgliedrigkeit und ein geringes oder fast fehlendes Unterhautfettgewebe ein Vorteil in tropischen Klimaten, und auch das gilt weitgehend für alle Tierarten und auch Tierrassen.

Wenn nach all dem argumentiert wird, es gebe keine Rassen, sondern nur fließende Übergänge zwischen den verschiedensten Einzelmerkmalen, dann kann ich die erste Behauptung nur zurückweisen, während ich die zweite Behauptung weitgehend unterstreichen kann. Denn es ist für Rassen nachgerade kennzeichnend, dass es zwischen ihnen keine klaren und definitiven Abgrenzungen gibt, sondern eben fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Einzelmerkmalen der aneinander angrenzenden Rassen. Solange aber die rassenbildenden Barrieren oder Nischen, welcher Art auch immer, noch bestanden und wirksam waren, bildeten sich innerhalb des innerartlichen Genflusses und der dadurch bedingten Merkmals-Varianz einzelne "Inseln", in denen sich über längere Zeiten hinweg bestimmte Merkmale neben- und nacheinander so geändert hatten, dass sie im Endergebnis im einen Bereich, im Unterschied zu anderen Bereichen, gemeinsam anders waren, also kovariierten.